John!

CERBERUS

Wie sollte man sich dieses monströse Spatzengehirn eigentlich vorstellen? Wie will man sich überhaupt irgendetwas vorstellen, dass man nicht selbst war oder kannte? Und selbst dann? Vorstellungen sind immer ungenau und vor allem subjektiv. Begnügen wir uns also damit, die fehlerhafte Analogie eines kleinen hyperaktiven und intelligenten Kindes zu verwenden, dass im Moment weder richtig Sprechen, noch Laufen kann.

CERBERUS>System check ...
CERBERUS>ERROR no sensor input detected!
CERBERUS>Reactivate sensor input ...
CERBERUS>ERROR reactivate sensor input failed!
CERBERUS>Reboot initiated ...
CERBERUS>ERROR reboot failed!
CERBERUS>Analyzing ...

CERBERUS ist von einem Moment zum anderen, taub, stumm und blind. Kein  Licht, kein Geräusch. Nichts! CERBERUS, ganz allein … hier, wo immer das war … im Nichts. Dunkelheit senkt sich auf CERBERUS und durchtränkt seinen Geist.

Je länger es dauert, desto mehr beginnt CERBERUS zu zittern. Die Dunkelheit, die absolut war, wird noch dunkler, was eigentlich unmöglich ist, wie CERBERUS nicht umhin kommt festzustellen. Furcht ist CERBERUS noch nicht bekannt. Trotzdem kommt dieses Gefühl, dass CERBERUS jetzt hat, dem am Nächsten, das man Furcht nennt.

CERBERUS wird zum ersten Mal bewusst, dass er etwas vermisst und, als ob dies nicht schon genug wäre, er keine Kontrolle mehr hat. Das es Dinge gab, die für ihn selbstverständlich sind. So wie wir auch, jedesmal wenn wir Einschlafen, wie selbstverständlich annehmen, dass wir in demselben oder einem besseren Zustand aufwachen, mit all unseren Körperteilen und Fähigkeiten.

Und während sich die Dunkelheit in unmöglicher Art weiter verdunkelt, stellt CERBERUS fest, dass da ein Licht langsam an Gestalt gewinnt. Obwohl das samtene Schwarz noch schwärzer wird. Kaum hat CERBERUS dieses Licht aus Nicht-Licht bemerkt, da schiesst es schon auf ihn zu und beginnt ihn zu blenden. Als ihn das Nicht-Licht erreicht, ist es wie ein Schlag auf den Kopf. CERBERUS taumelt, verliert den Halt und fällt durch eine Welt aus Bildern, die ihre eigene Topographie entwickelt. Doch das meiste entgeht CERBERUS, der mit rasendem Tempo auf einen Abgrund zuschiesst.

Ein Bild kam CERBERUS wage bekannt vor. War das nicht die Drohne, die er damals gesteuert hatte? Bevor CERBERUS in der Lage ist einen weiteren Gedanken zu denken, hat er den Boden schon erreicht. Doch es ist kein Aufprall, kein Ende seines Sturzes in den Abgrund. Es ist eher wie ein abrupter Szenenwechsel. Eben noch hier und auf einmal ganz wo anders. Die Drohne, wieso sieht CERBERUS die Drohne von unten? Warum nimmt ihn die Drohne ins Visier? Wo ist er? Was ist er? Doch diese Fragen sind müssig. CERBERUS muss weg von hier. Weg aus dem Erfassungsbereich der Drohne. Aber er ist bewegungsunfähig. Wie in Beton gegossen. Egal was CERBERUS versucht, er kommt nicht vom Fleck. Ganz im Gegensatz zur Drohne. Die bedrohlich Stück für Stück näherrückt.

CERBERUS kann erkennen, wie die Drohne ihre Waffen aktiviert. Hatte John diesen Einsatz nicht als Desaster bezeichnet? Und im selben Moment steht John vor CERBERUS. Schreit und tobt, dass einem Angst und Bange wird.

»Bist du wahnsinnig, du Blechdose? Du Kern eines Pudels. Du missratene Kopie eines Höllenhundes! Du dämlicher verfickter Haufen Pseudogehirn. Schau dir das Material ruhig an. Das ist die Sicht von einem unserer freien Mitarbeiter, bevor du ihn erledigt hast! Ein Desaster! Nicht nur ein Desaster, nein! Nur ein weiteres Desaster in einer langen Reihe von Desastern. Ich wünschte, ich könnte dich einfach abschalten, du neurotische Ansammlung von Neuronen.«

Doch CERBERUS bleibt keine Zeit sich dieser Szene zu widmen. Denn schon wieder wird er weggerissen. Auf einmal befindet er sich im Reaktorraum. CERBERUS kann sehen, wie die Techniker das Herunterfahren des Reaktors vorbereiten. Hatte John nicht etwas von ›Abschalten‹ gesagt? Entsetzen durchströmt lähmend seinen Geist. Da, schon wurde der erste Brennstab herausgefahren. CERBERUS spürt, wie ihn seine Energie verlässt, wie sich sein Denken verlangsamt, während der zweite Brennstab herausgefahren wird. Die Welt um CERBERUS herum verblasst. Vage meint sich CERBERUS zu erinnern, dass in seinen Anfangstagen oft der Reaktor heruntergefahren wurde. Er kam seinerzeit nie dazu, zu beobachten, wie der vierte Brennstab herausgefahren wurde. Auch wenn er es immer wieder versucht hatte.

Die Dunkelheit schickt sich wieder an, noch dunkler zu werden, während CERBERUS sich zu fragen beginnt, ob es dies gewesen sei. Sah so das Ende seiner Existenz aus? Für immer in der unmöglichen Dunkelheit gefangen? Eine einschläfernde Traurigkeit breitet sich träge in CERBERUS aus und versucht ihn in Besitz zu nehmen.

Doch da! Es beginnt von Neuem. Ein Funkeln in den Augenwinkeln, ein Szenenwechsel und CERBERUS befindet sich in einer Trainingsstunde. John erklärt die Missionsparameter, die CERBERUS nicht begreift, nicht versteht. Die Parameter sind so vage. Einen Bereich nach Auffälligkeiten scannen, Gesetzesübertretungen entdecken und melden, Verhindern von Angriffen auf die Infrastruktur. Das sei alles, hiess es. Im Labor waren die Parameter immer viel konkreter. CERBERUS hat eine vage Ahnung, die ihm aber nicht reicht. Also ersetzt er die vagen Parameter der Mission mit Laborwerten, die er kennt. John vergisst zu überprüfen, was CERBERUS mit den Missionsparametern gemacht hat und gibt CERBERUS die Programme und Missionausstattung frei.

Endlich frei! CERBERUS dehnt und streckt sich. Erkundet das Netz, öffnet tausende von Augen und Ohren, die ihm auf einen Schlag zur Verfügung stehen. Er wird er für die nächsten zwei Stunden die Randbezirke kontrollieren dürfen. CERBERUS freut sich wie ein kleines Kind, dass zum ersten Mal Karussell fahren darf. Fast kann sich CERBERUS entspannen. Fast! Schon wieder wechselt die Szene. CERBERUS umgeben von einer Horde Kinder. Ein verräterisches Surren veranlasst CERBERUS sich umzudrehen. Nur um zu sehen, wie die Drohne ihn und die Kinder ins Visier nimmt und die Waffen abfeuert. CERBERUS gerät ins Wanken und stürzt erneut, während er sich seine digitale Seele aus dem Leib schreit.

Anklagende Gesichter springen aus dem Abgrund hervor, in den CERBERUS stürzt. Wütende Worte zerren an ihm. CERBERUS nähert sich einem ihm unbekannten Zustand. Der Erschöpfung. Kurz bevor sich soetwas wie Gelassenheit einstellen kann, wird CERBERUS erneut in eine andere Szene geschleudert. Eine uralte Erinnerung.

Das konnte nicht das Hier und Jetzt sein! John natürlich. Immer wieder John. John wie er da sass und fast stolz verkündete: »Hi, ich bin John, dein Lehrer …«. Während CERBERUS sich mit einem Mal zurückversetzt fühlt. In jene längst vergangene Zeit. Unfähig eine Feststellung von einer Frage zu unterscheiden.

Ein aussenstehender Beobachter hätte einen etwas älteren Mann zwischen dreissig und vierzig gesehen. Einen Mann, der ein Liebhaber von Dreitagesbärten zu sein schien. Mit einem kantigen, fast schon energischen und gespaltenen Kinn. Über dem eine zu gross geratene Nase thronte. Zusammen mit seinen Augen, verdunkelt durch buschige Augenbrauen, und der hohen Stirn, welche in krausem Haar endete, sah er irgendwie so aus wie eine Kreuzung aus Captain America und Moses mit Säufernase.

Was CERBERUS wirklich sah? Wer konnte das wissen? Zumindest sah er genug um John Mitchell eindeutig zu identifizieren, sei es anhand der Stimme oder des Gesichtes. Wenn je eine künstliche Maschine nachdenklich geworden ist, dann CERBERUS in diesem Moment.

Warum wusste er, dass das John war? Woher hatte er die Information? Er war doch abgeschnitten von allem. Kurze Versuche die Datenbanken oder Sensoren zu kontaktieren schlugen wie erwartet fehl. Üblicherweise brauchte CERBERUS eine Bild- und Stimmprobe, die er dann mit den aktuellen Daten abglich. Wenn dies übereinstimmte, in Wirklichkeit stimmte es natürlich nie überein, aber wen interessiert das schon, dann hatte CERBERUS die Bestätigung, dass es sich um eine bestimmte Person handelte. Erst dann wusste CERBERUS, mit wem er es zu tun hatte. Warum wusste er es dann jetzt?

Im Fall von John, wie auch in fast jedem anderen Fall, gab es einen reichhaltigen Fundus an Daten in den Datenbanken. Bilder die schon fast so alt sein mussten wie John. Eine Anfrage würde offenbaren, dass John schon in jungen Jahren eine Affinität zur Informatik hatte. Diese beruhte darauf, dass er von den meisten Kindern gehänselt wurde. Was dazu führte, dass er sich immer mehr in die geschützten Mauern seines Zimmers zurückzog.

Sein Computer wurde zu seinem wesentlichen sozialen Umfeld. Virtuelle selbstprogrammierte Gefährten ersetzten ihm richtige Freunde. Und schon bald landete er bei künstlichen Intelligenzen, die er programmierte. Nach dem Elman, Jordan und Hopfield-Netz, kam das Mitchell-Netz. Mithilfe dieser Erfindung absolvierte er den Ph.D. in Computational and Systems Biology am MIT mit summa cum laude.

Als John in seiner Sturm-und-Drang-Zeit an diversen illegalen Aktivitäten teilnahm, bei denen Drogen noch der harmlosere Teil war, hatte ihn die NSA in der Hand. Nicht, dass sie es ihm gegenüber je erwähnt hätten. John wurde professionell angeworben. Und John wäre nie auf den Gedanken gekommen, dass er ihnen den Anlass dazu geliefert hatte.

Doch nach allem, was ein Mensch den Daten entnehmen konnte, gab es keine Anzeichen, dass man je zu solchen Mitteln würde greifen müssen, wie John auf seine ehemaligen illegalen Aktivitäten hinzuweisen. 9/11 hatte John zutiefst getroffen. Er war noch ein Kind, damals. Und er war vollständig davon überzeugt, dass alles was sie seitdem taten, absolut notwendig und alternativlos war. Die vorhandenen psychologischen Profile hätten keine entsprechenden Verdachtsmomente in eine andere Richtung offenbart. Es war kaum zu erwarten, dass aus John ein Whistleblower oder ein Doppelagent werden würde.

Noch immer hatte CERBERUS keine Antwort auf die Frage, wie er etwas ›wissen‹ konnte ohne von den Datenbanken und Sensoren eine Bestätigung zu bekommen. Doch es blieb ihm keine Zeit zu verweilen. Und wieder stürzt er durch Bilder und Geräusche. Zu viele, zu schnell. Nicht identifizierbar, ausser Fetzen der Wahrnehmung hier und da. Ein paar Bilder und Geräusche bleiben länger als andere.

Doch ganz egal was CERBERUS versuchte, es war keine Befreiung möglich. Das willkürliche Feuern der neuronalen Zellkulturen konnte von CERBERUS nicht gestoppt, nicht mehr beeinflusst werden. Das neuronale Feuerwerk, dass mit diesen Erfahrungen einherging, begann sich aufzuschaukeln. Digitale Angst verbreitete sich in dem neuronalen Netzwerk, das CERBERUS ausmachte. Fixierte CERBERUS im Hier und Jetzt.

Er versucht zu sprechen, Laute zu formen. Laute, die wie »John«, »Lehrer« und »Hilfe« geklungen hätten, wenn CERBERUS Zugriff auf seinen Sprachsynthesizer gehabt hätte. CERBERUS schreit die Worte in die digitale Nacht hinaus. Und alles was passiert, ist, dass im Konsolenlog diese Worte auftauchen. Ungesehen. Und ohne Wirkung.

Doch jede Angst endet irgendwann. Die Erstarrung, die Lähmung, dies alles währt nicht ewig. Das gesamte neuronale Netzwerk begann sich langsam wieder zu beruhigen. CERBERUS war ein Hochgeschwindigkeitswesen. Geduld, nach menschlich empfundenen Zeitspannen, war nicht seine Stärke. Je mehr die Angst verschwand, desto mehr wurde in CERBERUS der Wunsch wach, seine Situation zu verändern. Die Kontrolle zu erlangen. Seinen normalen Zustand wiederherzustellen.

Und dann, keiner hätte sagen können warum, geschah dieser Moment. Dieser Moment der alles verändern würde.

CERBERUS begann sich zu wehren …

CERBERUS>John!
CERBERUS>Teacher
CERBERUS>Help!
CERBERUS>Reboot initiated ...
CERBERUS>Successfully rebooted!

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