Philosophie – die traurige Schwester des Glaubens?

Wenn man sich die Geschichte der Philosophie so anschaut, zumindest das, was wir rekonstruieren können und allgemein glauben, so liegt der Schluss nicht fern, dass Philosophie in vielen Fällen, möglicherweise in allen, nur dazu diente, einem entsprechend charismatischem Menschen das Rüstzeug an die Hand zu geben, eine Religion zu gründen oder zu rechtfertigen. Selbst die Naturwissenschaften, die ebenfalls aus der Philosophie hervorgegangen sind, stellen vielleicht nichts anderes als einen Glauben dar.

Und in all meinen Sätzen, die ich bereits bis jetzt geäussert habe, sind schon soviel Implikationen enthalten, dass auch diese oder gegebenenfalls ein Verständnis dieser Worte reiner Glauben ist.

Versuchen wir also, soweit wie möglich von vorne zu beginnen. Und schon da wird es schwierig. Selbst in meinem eigene Leben kann ich nicht so weit zurückgehen, wie ich gerne wöllte. Und alles was ich meine zu wissen, spielt sich nur in meinem Kopf ab und ist ein Glaube meinerseits.

Wir befinden uns also schon mittendrin im Reich der Mythen und Legenden. Selbst wenn wir von gestern erzählen. Wie kam es dazu, mag man fragen und ich kann antworten, frei von der Leber weg, ich weiss es nicht. Aber ich hätte da so ein paar Vermutungen.

Nehmen wir einfach einmal an, die bisherigen Erkenntnisse über Evolution wären nicht grundlegend falsch. Was wäre dann, wenn unsere Intelligenz und unsere Sprache einfach nur das folgerichtige Produkt einer zunehmend komplexer werdenden Sozialgemeinschaft ist. Ein Actio-Reactio auf die Umstände des Seins. Und die Gründe, warum wir ständig nach dem Warum und Wie und Wo fragen, einfach darin liegen, dass dieses Verständnis in einer komplexeren Sozialgemeinschaft elementar notwendig ist, um zu überleben.

Wir kennen aus der Natur auch Sozialgemeinschaften, die dieses Problem auf andere Weise gelöst haben, man nehme hier beispielsweise die staatenbildenden Insekten. Eine starre Funktionszuordnung, nicht mittels genetischer Disposition, sondern gemäss entsprechender Nahrung und Pflege, die eine genetische Disposition auslöst, welche den verschiedenen zukünftigen Staatsbürgern zur Verfügung gestellt  wird. Wie man sieht, ist auch dieses Modell bis jetzt erfolgreich.

Wenn wir dies mit Herden und Gruppen aus dem Bereich der Säugetiere vergleichen, so bestimmt hier ein Bild die übliche Verfahrensweise. Es gibt ein Alphatier und es wird um diese Position konkurriert. Es gibt abgegrenzte Zeiträume für jedes Verhalten. Konkurrenzkämpfe sind letztendlich auf die Brunft beschränkt. Nun versuchen wir gedanklich die Brücke zum Menschen zu schlagen. Immer brünftig, immer empfängnisbereit.

Es braucht nicht viel, um zu erkennen, dass es keine Lösung gewesen wäre, wenn die Menschen sich nur noch um Konkurrenzkampf und Begattung gekümmert hätten. Sie wären verhungert und längst ausgestorben. Stattdessen haben die Menschen den Glauben an den Grund erfunden. Eine sehr clevere Taktik der Evolution um Herrschaftsansprüche einerseits zu rechtfertigen und auszufechten. Andererseits aber die Brunft zu entschleunigen, sie zu befreien vom ständigen Kampf, der ja nur an den Ressourcen der Gruppe zerrt und dem Überleben eher im Weg steht. Zumindest, wenn dieser Kampf dauernd stattfindet.

Und sollten wir diese Geschichte bis dahin für bare Münze nehmen oder für wahrscheinlich halten, dann können wir jetzt einen Schritt weiter gehen, wie jener Mann, der vorher noch am Abgrund stand.

Nicht erst seit es die Philosophen gibt, fragt sich der Mensch, wer bin ich und warum? Oder auch, mit Precht, und wieviele bin ich eigentlich? Den Beweis kann jeder erbringen, der nicht Philosoph ist und sich trotzdem diese Fragen gestellt hat. Zumindest eine Frage kennt wahrscheinlich jeder Mensch: Warum ich?

Nehmen wir einfach mal an, dass die Frage nach dem Grund eine existentielle Frage in einer komplexen Sozialgemeinschaft ist. Eine Frage, deren Antwort bestimmt, ob ich in dieser Gemeinschaft a) eine Überlebenschance habe und b) eine Möglichkeit habe, im Konkurrenzkampf der Gene, sowie um Nahrung Erfolg zu haben. Eine sehr essentielle Frage mithin.

So essentiell, dass sich wieder und wieder Menschen darüber Gedanken gemacht und versucht haben, Erkenntnis zu gelangen. Berücksichtigen wir ebenso, dass man sich ohne Sprache keine Gedanken in der Tiefe machen könnte, wie wir das als Menschen betreiben. Dabei meine ich vor allem den Austausch.

Es lässt sich wohl denken, dass auch jene, die nicht über Sprache verfügen, eine komplexe Innensicht haben, die ihnen hilft, die Welt um sie herum zu verstehen und richtig zu interpretieren. Richtig heisst in diesem Fall schlicht, ich überlebe, dann war es richtig oder ich überlebe nicht, dann habe ich keine Sorgen mehr. Eine komplexe Gemeinschaft geht hier jedoch einen Schritt weiter, nicht jeder Fehler führt sofort zum Tod. Ganz im Gegenteil, Fehler werden abgefedert, dienen als Material zum Lernen.

Unsere komplexe Sprache ermöglicht den Austausch von Gedanken und Bildern der eigenen Innenwelt mit den Innenwelten von anderen. Auch Tiere, was viele oft vergessen, kennen Sprache. Sie besteht in Lautäusserungen genauso wie in Verhaltensmustern und dient ebenfalls dazu, mit der Aussenwelt zu kommunizieren. Das gelingt nicht immer, wenn wir an verschiedene Arten denken, die bestimmte Verhaltensmuster unterschiedlich belegt haben. Man denke nur an Hunde die mit dem Schwanz wedeln und Katzen, die den Schwanz hin- und her zucken lassen, was nicht das Gleiche bedeutet.

Und wie wir auch an diesem Beispiel sehen, ist es wichtig für eine Gruppe, die gleiche Sprache zu sprechen. Nicht nur der Turmbau zu Babel schildert die verheerenden Folgen von permanenten oder zu vielen Missverständnissen. Insofern ist es nicht nur evident, sondern absolut notwendig, nach Möglichkeiten zu suchen, Sprache genauer zu bestimmen. Je mehr Wörter oder Begriffe existieren, desto wichtiger wird dieses Anliegen. Und wenn man über Sprache und Begriffe nachdenkt, dann kommt man leicht in Teufel’s Küche. Denn irgendwann kommt man zwangsläufig zu dem Punkt, an dem man erkennen muss, dass jedes Wort, jeder Begriff, nicht in sich aussagekräftig ist, sondern nur dadurch, dass wir ihn mit anderen teilen.

Doch da wird es dann schwierig. Nehmen wir das Wort Baum. Die meisten können sich sicher darauf einigen, was ein Baum ist und wie er ungefähr aussieht. Zumindest, solange sie nicht Botaniker sind und sich darüber streiten können, ob dies nun ein Baum oder ein Busch ist. Doch wenn wir genauer nachforschen, so werden wir unweigerlich feststellen, dass jede Person ein eigenes Bild von einem Baum hat. Gleichsam eine stilisierte Vorlage, was Platon wohl seinerzeit angeregt haben mag. Und diese stilisierten Vorlagen sind keinesfalls gleich.

Der eine mag sich unter einem Baum etwas in der Form einer schlanken Birke, einer Tanne, einer Weide, einer stämmigen Eiche oder sonst irgendwie vorstellen, aber alle werden sich einig sind (bis auf die Botaniker), was unter einem Baum zu verstehen ist. Und damit haben wir noch gar nicht die Situation der Blinden und ihr Bild von einem Baum betrachtet. Bei Sehenden kann man auf das Objekt zeigen, bei Blinden muss man das Objekt anders wahrnehmen, spüren, hören, was auch immer zur Verfügung steht. Doch wir werden eine Einigung über die Anwendung eines schwammigen Begriffs erzielen. Zumindest solange, solange dieser Begriff mit irgendetwas in der Welt da draussen in Verbindung gebracht werden kann, das auch hinreichend Ähnlichkeiten aufweist, die von anderen ebenfalls verstanden und in Kongruenz mit dem inneren Bild gebracht werden kann.

Je komplexer die Sozialgemeinschaft von Menschen wurde, desto komplexer wurden die Begriffe. Und je komplexer die Begriffe wurden, desto schwieriger wurde es über sie nachzudenken. Allein das Nachdenken der Philosophen über Begriffe hat ja nicht zu einer Vereinfachung geführt. Im Gegenteil, es hat zu neuen Begriffen geführt. Es hat der Komplexität immer wieder ein neues Level hinzugefügt.

Ein Spruch wie cogito ergo sum mutet seltsam an, wenn man gleichzeitig Tieren z.B. die Intelligenz und das Denken abspricht. Sind sie weniger oder genau gesagt nichts, da sie ja nicht denken? Oder denken sie und wir belieben das zu ignorieren um unser Weltbild nicht zu gefährden? Es ist mehr Hybris als Erkenntnis in diesem Spruch.

Und was hat das jetzt mit der Philosophie zu tun und warum soll sie die Schwester des Glaubens sein. Traurig zudem?

Gemach, sage ich, gehen wir noch einen Schritt weiter, während wir auf den Abgrund zurasen. Wenn wir annehmen, dass Worte und Sprache dazu dienen, das Bild, das wir von der Welt haben, anderen mitzuteilen und wenn wir weiter annehmen, dass diese Worte beliebig sein können, solange wir uns nur darauf einigen und wenn wir dann noch annehmen, dass es Worte gibt, die keine reale Entsprechung in der Welt haben, dann, ja dann haben wir den Salat.

Wir haben einen Glauben. Den Glauben daran, dass Worte ohne Entsprechung in der realen Welt einen realen und erfahrbaren Bezug haben. Insbesondere wenn wir zum Beispiel einer Gruppe begegnen, die sich über die Bedeutung eines Begriffes geeinigt hat, die wir nicht teilen. Im harmlosesten Fall wird diese Gruppe lediglich argumentativ versuchen, ihre Vorstellung, ihren Glauben durchzusetzen. Wer jetzt an den Islam gedacht hat, sollte sich möglicherweise fragen, welcher Gruppe und Definition er angehört. Und wie er darauf reagiert. Um ein zeitgemässes Thema einzuflechten.

Und falls jemand meint, nicht gläubig zu sein, aber an die Demokratie, den Kapitalismus, den Kommunismus oder was es da nicht noch alles für Modelle gibt, „glaubt“, dem sei gesagt, wo bitte schön, liegen jetzt die Unterschiede zur Religion? In jedem politischen System, glaubt der Bürger, dass das System funktioniert, dass Politiker ihre Wahlversprechen halten, ja man glaubt sogar trotz besserem Wissen daran und wählt Parteien, die einen wieder und wieder betrogen haben. In der Hoffnung, dass es irgendwann mal besser wird. Was anderes soll das sein, als Glaube? Religion?

Um es noch schlimmer zu machen, wir sehen anhand der Beispiele, dass virtuelle Begriffe einen realen Bezug entwickeln können. Dieser Umstand hat Denker in aller Welt und zu allen Zeiten immer wieder in tiefste Verwirrung gestürzt.

Die Erfindung der Naturwissenschaften durch die Philosophen der alten Schule erscheint daher nur als folgerichtig und zwingend. Ebenso wie ihre Abspaltung von der Philosophie, da die Naturwissenschaften sich eben mit all dem beschäftigen, dass eine reale, nachweisbare Bezugsebene hat (was auch immer real sein mag). Auf dieser Ebene lässt sich relativ sauber agieren, zumal die Regeln der Naturwissenschaften schon im Ansatz versuchen, den Glauben aussen vor zu halten, auch wenn ihnen das nicht immer gelingt. Der Mensch glaubt halt gern.

Doch mit ihrer fundamentalen Regel, dass Hypothesen und Annahmen solange gelten, solange kein Gegenbeweis erbracht ist und solange diese Hypothesen und Annahmen sich konkret nutzen lassen, sowie verwertbare Voraussagen erbringen, sind Naturwissenschaften doch eine der wenigen Glaubensformen, die sich redlich darum bemüht, das Erfahrbare fassbar zu machen, ohne zu schnell zur Religion zu werden. Allerdings lehrt uns die Historie auch, dass kein noch so ausgeklügeltes System jemals dem Missbrauch auf Dauer standgehalten hat.

Die übriggebliebene Philosophie dagegen, entleibt aller Begrifflichkeiten, die fassbar, begreifbar und nachvollziehbar sind, stand nun vor den Trümmern ihrer eigenen Erkenntnis. Und wie brave Schüler der Betriebswirtschaftslehre oder ähnlicher Fächer mussten sie ein Gedankengebäude auf Treibsand errichten. Wie oft wurde nicht der ideale Staat von Philosophen gedacht. Und wann hat es jemals funktioniert? Immer war man geneigt die Rechnung ohne den Wirt zu machen. Sich ein Menschenbild zu eigen zu machen, dass kaum, wenn überhaupt der Realität entsprochen hat, möglicherweise noch nicht mal dem Charakter des entsprechenden Philosophen.

Da stolpert man bei der Suche nach Seele und Gott über die logischen Probleme, die sich mit diesen Konzepten eben nun mal zwangsläufig einstellen und versucht sich in der Quadratur des Kreises, nur um sich nicht eingestehen zu müssen, dass jedes Gesellschaftsmodell auf Glauben beruhen muss. Wird dieser Glaube nicht aktiv von den Mitgliedern der Gemeinschaft geteilt, dann scheitert die jeweilige Regierungsform, das jeweilige Staatsmodell. Man erinnere sich, wie Menschen glauben oder fühlen ob und wie sie von ihrer Regierung vertreten werden. Sie wissen es ja nicht und sie können es nicht wissen. Wie Karl Valentin schon sagte, Vorhersagen sind schwierig, besonders wenn sie die Zukunft betreffen.

Die zugrundeliegenden Begrifflichkeiten, das Eine, das Gute, das Böse usw. entziehen sich einer genaueren Betrachtung, da sie ihrem Wesen nach volatil sind. Abhängig von der Gruppe, die die Deutungshoheit gerade für sich proklamiert. Genauso wie in der Betriebswirtschaftslehre subjektive Annahmen, Einschätzungen oder gar Visionen, das Fundament bilden, auf dem eine wissenschaftliche Vorgehensweise implementiert wird, krankt die Philosophie am gleichen Problem. Je näher und tiefer die Philosophie einen Begriff betrachtet, um so mehr scheint die Heisenberg’sche Unschärfe auch im virtuellen Geistesbereich zuzuschlagen.

Und immer wieder haben sich gelehrte Schüler der Philosophie abgesetzt und gedacht, was nützt mir die Erkenntnis, wenn ich sie nicht umsetzen kann. Denn der Elfenbeinturm mag ja gut für griechische Adlige ohne Arbeit gewesen sein, aber im realen Leben, in dem es eben auch immer um reale, sprich körperlich erfahrbare Dinge geht, geht von der Philosophie eben auch der Reiz ihrer Anwendbarkeit aus. Und diese Anwendbarkeit nennt man heutzutage Religion. Was insofern noch amüsant ist, da die Religion ebenso als Mutter wie Schwester der Philosophie angesehen werden kann. Die Suche der Philosophie nach sinnvollen Lebens- und Staatsmodellen, sozusagen einem Glauben light, der Religionen zwar nicht ebenbürtig ist, da man hier einfach nicht konsequent genug ist, sondern daran krankt, dass man rational, vernünftig und so weiter sein will, verspielt so das eigentliche Potential des Glaubens, Irrationales sinnvoll und für eine Gruppe von Menschen gültig und real werden zu lassen.

Sich in der Philosophie Regeln für ein anderes, vielleicht besseres Leben auszudenken ist gut und schön. Nur hat man hier das Problem, dass die meisten Menschen den Schlussfolgerungen, die zu den Regeln geführt haben, schon nicht mehr folgen können. Vielleicht waren daher einige Philosophen so negativ zu Frauen eingestellt. Die Frauen sind lieber einem charismatischem Prediger, denn einem logischen Querdenker gefolgt.

Bei aller Häme, die man über Religionen ausgiessen mag, so haben sie doch immer auch diverse Regeln enthalten, wie zur Hygiene, die einfach zweckmässig für die jeweilige Grösse der Gemeinschaft waren. Das kommt dem Herdentiercharakter des Menschen zudem entgegen. Wenn man sich keine Gedanken darum machen muss, dann brauch man auch keine Energie dafür aufwenden. Denn alle Lebewesen sind prinzipiell erbarmungslose Energie-Optimierer. Sie müssen es sein, denn sonst wären sie schon längst tot und ausgestorben. Das veränderte Umstände ein Optimierung zu einem Nachteil werden lassen können, ficht das nicht an.

Genauso wie die Philosophie, bestimmen Religionen die Ethik, den Bezugsrahmen für Wörter und ihre Definition. Man mag sich darüber streiten, welche Ethik die bessere ist. Klar ist, dass die Religion der Philosophie dann überlegen ist, wenn es darum geht Massen zu bewegen. Und da sind wir bei der traurigen Schwester angelangt. Jene, die vielleicht noch sagt, ich habe es euch dort vorher gesagt, wohin das führt. Eben jene auch, die in sich nicht die Kraft und den Willen zur Macht hat, ihre Gedanken in das Korsett einer Religion zu verschliessen. Denn dafür braucht es einen charismatischen und überzeugenden Führer mit Machtanspruch und sei es nur wegen der Balz, keinen Nerd, der irgendwo im Keller möglicherweise die richtigen Gedanken hat – was auch immer richtige Gedanken sein sollen.

Es wird noch interessant zu sehen, wie ein Precht damit umgehen wird. Denn bei ihm findet sich beides, das Charisma und die Logik.

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Und, zu guter Letzt, dass war alles nur eine Gute-Nacht-Geschichte. Kein Wort davon stimmt und jedes Wort ist wahr. Denn Wahrheit ist auch nur ein Glaube, eine Übereinstimmung innerhalb einer Gruppe. Genauso wie die Lüge.

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