Freier Fall

Nun, er hatte Glück! Immerhin hatte er nicht, wie andere, darauf bestanden, dass er keine Kinder wöllte. Er meinte, lassen wir’s drauf ankommen, was ihm viel Ärger und Frust ersparte. Dafür jede Menge anderen Frust und Ärger einbrachte.

Ganz im Gegensatz zu den anderen Männern, die keine Kinder wollten, sie aber trotzdem bekamen. Und wenn Frau dazu auf die Samenbank gehen musste, um nachher den Vater in die Pflicht zu nehmen. Gegen biologische Imperative kämpft man nicht an! Das Leben war auch so schon kompliziert und enttäuschend genug. Frag Marvin, wenn du es nicht glaubst.

Dass dann diese Kinder da waren, half meist, es als Glück zu verklären. So wie das Glück von einem Güterzug frontal gerammt zu werden und es trotzdem zu überleben. Und was konnten die Kinder schon dafür? Keine Sorge, das Leben würde sich schon was Passendes ausdenken. Da konnte man sich, bei so einer unbeständigen Sache, wie dem Leben, sicher sein.

Leben? Ja, das war wohl der Gedanke, der ihn auf diesen Fenstersims gebracht hatte. Nein, er hatte nicht vor, dreimal so alt zu werden, wie das Universum, um dann, genau wie Marvin, sagen zu können: Leben? Erzähl mir nichts vom Leben …

Es würde heute enden, so oder so! Nicht das es eine Rolle gespielt hätte. Eigentlich war er doch schon seit Ewigkeiten so tot, wie Hot Black Desiato, nur nicht aus steuerlichen Gründen. Und Gründe sich zu beklagen hatte er sowieso nicht. Wie käme er dazu? Beklagt sich ein Surfer, wenn ihn die Welle erwischt?

Nun gut, ja, die meisten beklagen sich.

Aber ein Surfer im Herzen? Nie!

Ausser, wenn es keiner sieht!

Gnädiger gestimmte Menschen machten dann das Schicksal oder irgendwelche Götter verantwortlich. Weniger gnädige Personen, die Sorte, die, die man zuhauf an jeder Ecke trifft, machen eher andere Personen oder Dinge verantwortlich. Was vielleicht erklärte, warum so viele Leute mit vollem Bauch und Dach über dem Kopf tatsächlich meinten unglücklich zu sein.

Es gab natürlich eine Theorie, die besagte, dass man solche Probleme eigentlich nur mit vollem Bauch und Dach über dem Kopf hätte. Aber wie die meisten Theorien, war auch diese Theorie nur annähernd richtig, auch wenn der kausale Zusammenhang nicht gänzlich konstruiert war.

Das es eigentlich keine kausale Zusammenhänge gab, war nur eine Nebensächlichkeit, die dem Menschen nicht bewusst war. Nicht bewusst werden konnte, was aus der Tatsache resultierte, dass diese Lebensform auf einem Betriebssystem lief, dessen Treibstoff Kausalität war. Egal, ob es sie gab!

Alles musste einen Grund haben. Musste! Und wenn es einen Grund geben musste, gab es den auch. So einfach, so erheiternd!

Wollte er jemanden verantwortlich machen? Nein! Gewiss nicht. Naja, ein bisschen vielleicht. Eigentlich ganz entschieden!

Und das wäre ja, sogar gemäss der Meinung der Mehrheit, völlig im Einklang mit dem allgemeinen Verständnis von Leben gewesen. Das Dumme war nur, der einzige, der ihm einfiel, den er verantwortlich machen konnte, war unbestreitbar er selbst!

Was spielte das schon für eine Rolle, dass er seine Kinder aufgefordert hatte, ihn fertig zu machen, damit er einen Grund hätte, seine persönliche Misere endlich zu beenden. Er hatte sie schliesslich aufgefordert und sie hatten diesen Job sehr ernst genommen. Mehr kann man sich doch nicht von seinen Kindern erwarten? Zumindest in einem ironiefreiem Leben, in dem man alles wörtlich nimmt.

In einem kurzen Anfall von Verzweiflung hatte er daran gedacht, die Kinder mitzunehmen, den ganzen langen kurzen Flug. Natürlich nur am Telefon. Am besten über Skype. Oder Youtube. Damit die Gaffer auch auf ihre Kosten kämen. Aber nein, das betraf nur ihn und diese Personen waren nur zufällig seine Kinder. Was hatten sie schon damit zu tun, dass er da war, wo er war?

Natürlich alles!

Aber das spielte keine Rolle. Im Endeffekt hatte er das gemacht, was er gemacht hatte und sich nie anders entschieden. Möglicherweise aus diesem Zwang heraus, einen Grund zu finden. Weil die Kinder da waren, musste er arbeiten. Weil er auch noch die Schulden aus der Ehe übernahm und Unterhalt leisten musste, musste er noch mehr arbeiten. Weil die Kinder auf einmal hunderte von Kilometern entfernt waren, arbeitete er noch mehr und so weiter und so fort, der ganze typische „Ich seh da einen Zusammenhang“ Kram halt.

Dabei war es seine Entscheidung die Verantwortung zu übernehmen. Auch wenn ihn niemand, ausser er selbst, darum gebeten hatte. Naja, seine Frau oder sollte er Frauen sagen, ja, Frauen klang besser und war korrekter, hatten gefordert und gewollt. Ausser wenn sie mal nicht gewollt hatten. Meist wenn er wollte. Da kann man doch nicht wirklich davon reden, dass er gebeten wurde. Und dass die Kinder ihm die Schuld gaben, dass die Frau auf einmal hunderte von Kilometern zwischen ihn und die Kinder brachte, je nu, war ja klar. Wer sollte denn sonst Schuld sein? Die unangreifbare, unfehlbare Mutter etwa?

Wage es nicht uns die Schuld zu geben hiess es. Wie der Polizist, der ihn nicht durchlassen wollte, weil da eine Veranstaltung war. Und die Begründung, dass er aber dort wohnte, so sehr mochte, dass er ihm herzzerreissend die Scheisse aus dem Leib prügelte. Und dabei immer schrie: „Geben sie nicht mir die Schuld! Sie haben doch damit angefangen!“. Wenigsten hatte der Polizist nicht auch noch gedroht, sondern eher höflich gebeten. Auf seine Art. Mit Worten zumindest. Was konnte er schon dafür, dass seine Taten so anders ausfielen.

Dabei ging es ihm gar nicht darum, irgendjemandem die Schuld zu geben, sondern nur zu erklären, warum er im Bezug auf Weihnachtsgeschenke nicht in der Stimmung gewesen war. Nicht in der Lage war, viel zu schreiben oder gar anständige Geschenke zu liefern. In Sachen Erwartungen, da kannten seine Kinder kein Halten. Da waren sie Profis. Da waren sie in vertrautem Gelände. Das konnten sie.

Und alles nur, weil die Kinder sich beschwerten. Über die Geschenke. Natürlich. Und über ihre wiedermal enttäuschten Erwartungen. Allerdings hatten sie davon so viele, dass es eher schwer war, irgendwen irgendwie mal ausnahmsweise nicht zu enttäuschen.

Von allein hätte er mit diesem Thema gar nicht angefangen, das ihm dann um die Ohren gehauen wurde. Aber dieses selbstmitleidige, erwartungsenttäuschte „Das musste jetzt mal raus!“ hatte ihn zu einer Gegenreaktion getrieben. Auch bei ihm musste mal einiges raus.

Nicht das es seine Kinder interessierte, wie es ihm ging. Was da mal raus musste. Ausser es war lustig, fröhlich, unverbindlich. Sie hatten ja schon sein Testament als Angriff gewertet. Als ob es so unnormal wäre, in höherem Alter auch mal darüber nachzudenken, was wäre, wenn ihm irgendetwas zustossen würde. Insbesondere wenn man ständig unterwegs war. Auf die Dauer der Zeit steigt nun mal die Wahrscheinlichkeit für Unfälle.

Nein, jedes Anzeichen von Nichtfröhlichkeit war ein Affront. War ein Sturmangriff auf ihre Erwartungen, jetzt doch bitte bedient zu werden, jetzt doch bitte das zu bekommen, was sie sich wünschten. Es reichte doch wirklich, dass ihnen schon die Welt verweigerte, ihre Erwartungen zu erfüllen. Da war es doch nur recht und billig, dass wenigstens er ihre Erwartungen erfüllte.

Und bis zu einem gewissen Alter fand er das auch völlig okay. Schliesslich machte man das doch so. Den Kinder erzählen, dass alles nicht so schlimm ist, während man innerlich verreckt. Das alles wieder gut wird, während man nicht schlafen kann und nicht weiss, wie es weitergehen soll. Das macht man doch so.

Aber bei erwachsene Personen? Mit eigenen Kindern, die langsam in die Pubertät kommen? Er fragte sich immer noch, wann er diesen Vertrag mit Blut unterschrieben hatte? Ach nee, genau, es war kein Blut gewesen. Es war Sperma! Die Geheimtinte. Alles klar.

Hätte er sich ja eigentlich gleich denken können. Ha, denken, er war sich ja noch nicht mal sicher, ob er überhaupt denken konnte. Nachher denken, ging immer gut. Oh nein! Hätte ich doch nur! Wenn ich das gewusst hätte! Das funktionierte prima. Das mit dem vorher denken, das war das Problem.

Das Konzept einer Drohung schienen sie auch nicht verstanden zu haben. Oder er hatte es nicht verstanden. Wer weiss das schon. Sie hatten sich beschwert, er hatte versucht es zu erklären. Dummerweise keine fröhliche Sache. Dummerweise vermintes Gebiet. Aber eine Drohung? Wo hatte er verdammt noch mal damit gedroht? Er hatte erwähnt das es ihm schlecht ging, worauf ganze Engelschöre „Selbstmitleid, Selbstmitleid, Selbstmitleid“ anstimmten.

Er hatte erwähnt, dass er weiterkämpft. War das die Drohung? Sollte er endlich konsequent mit kämpfen aufhören? So hatte er das bis jetzt noch nie gesehen. Klar, seine Gegenwart, auch wenn weit entfernt, weiter ertragen zu müssen, Schuldgefühle zu haben, weil man keine Zeit und keine Lust hatte, sich um den Vater zu kümmern, logisch, wenn er dann weiterkämpfte, dann war das eine handfeste Drohung.

Das Gute war, dass sie damit seinen Trotz geweckt hatten. Sonst hätte er sie auf die Brücke mitgenommen. Doch wenn sie das mit aller Macht versuchten, ihn genau dahin zu bekommen, dann … dann erstmal nicht. Nicht mit mir. Und so erst recht nicht. Sein ganzes Leben hatte er sich dieser Welt abgetrotzt. Da kannte er sich aus. Da war er auf vertrautem Terrain.

Überrascht entdeckte er, dass er ein wandelnder Widerspruch war. Egal was jemand sagte, er fand ein Position die der geäusserten diametral gegenüber stand. Ich mag das nicht – ach es hat doch auch seine schönen Seiten. Ich mag das – naja, wo Licht ist, ist auch Schatten. So etwas in der Art. Aber auch das spielte jetzt keine Rolle mehr. Selbst am Trotz und Widerspruch hatte er mittlerweile den Spass verloren.

Kurz danach dachte er noch daran, seine Kinder zu enterben. Schrieb es auf. Zerriss es wieder. Was, in Gottes Namen, konnte er schon vererben? Da war nichts mehr von Wert. Und sein Leben? Keinen Pfifferling war es wert.

Wieso stand er jetzt eigentlich hier? Auf dem Fenstersims? Und fror? Und dachte? Dieses Danachdenken. Es wurde Zeit für einen Schlussstrich. Oft, wenn er glaubte, er könne nicht mehr, hatte er sich mit den Gedanken an seine Kinder getröstet. Halt gefunden. Einen Grund. Einen beschissenen, verdammten, idealisierten Grund.

Worte, ja, Gelaber ja, da waren seine Kinder Meister, wie er selbst. Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm. Klar doch, du bist immer willkommen. Und so. Reine Lippenbekenntnisse. Als er zufällig noch dachte, weil er in der Nähe war, sich bei einem seiner Kinder zu melden, wäre eine tolle Idee, kam nur ein vorwurfsvolles „Was willst du denn hier?“. Er hatte sich aus dem Staub gemacht, bevor noch mehr dieser liebevollen Wörter sein Ohr erreichen konnte.

Einen Abschluss, er musste einen Abschluss finden. Die Sache ging schon viel zu lange und, um es mit Marvin zu sagen, er hatte immer noch diese schrecklichen Schmerzen in der linken Diode.

Deswegen war er hier. Um das alles hinter sich zu lassen. Um dem Trotz zu trotzen. Der ultimative Trotz sozusagen. Wie sollte er sich noch mit Kindern trösten, die einen alten kaputten Mann eher in den Tod trieben als ihm vielleicht mal zu sagen, ist alles nicht so schlimm? Wird schon wieder. Sie waren ja schliesslich nicht seine Eltern. Der Job war nur für die eigenen Kinder bestimmt.

Nein, in solchen Kindern konnte er keinen Trost mehr finden und für alles andere war es nun auch zu spät. Es ist ja nicht so, dass das Alter mit Lebenskraft und Gesundheit einhergeht. Eher entzieht das Alter dir genau diese Sachen.

Genug gedacht, in einem anderen Leben würde er ihnen vielleicht verzeihen können, aber vergessen? Nein, vergessen würde er nie. Ausser er sprang jetzt endlich. Wenn nicht, würde er noch zum Ritter von der traurigen Gestalt. Und Aufmerksamkeit erregen. Doch an dieser Sorte Aufmerksamkeit lag ihm nichts. Die andere Sorte jedoch gab es nicht. Nicht für ihn … also sprang er.

Noch im Fall kam ihm der Gedanke, habe ich da nicht etwas vergessen. Doch, zu spät. Er fiel und die Zeit dehnte sich ins Unermessliche. So ein Schmarrn, dachte er, dass sich das Leben nochmal vor einem abspult, wenn es soweit ist. Alles nur Blödsinn made in Hollywood. Entweder denkt man „Scheisse, ich falle, ich ertrinke, ich … irgendwas“ oder man denkt „War da nicht noch was?“. Und dann ist es schon rum.

Weich landete er auf dem Rasen vor dem Fenstersims. Des Fensters im Erdgeschoss. Die Nachbarn schauten immer noch etwas komisch. Aber er war glücklich. Er hatte es einfach tun müssen. Diesen symbolischen Sprung in ein neues Leben. Das alte hatte er hinter sich gelassen. Es war ihm egal. Es war Geschichte.

Das neue Leben hatte eben erst begonnen!

(Zu Marvin und Hot Black Desiato befrage man den „Anhalter durch die Galaxis“ – ein Buch, auf dem mit freundlichen Worten KEINE PANIK steht.)

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