Ein Hundeleben

Charles war jetzt 25, lange würde er es wohl nicht mehr, dachte er sich, als sein Herrchen an der Leine riss. Er hatte sein Geschäft noch nicht beendet, aber sein Herrchen war in Eile. Er versuchte sich den nackten Arsch am Gras der Wiese zu reinigen, indem er sich hinsetzte und erbarmungslos von seinem Herrchen weitergezogen wurde. Das scheuerte zumindest den gröbsten Dreck weg.

Sein Herrchen hatte ihn „Tag der Erkenntnis“ genannt. Zumindest schien das die Bedeutung der Pfeif- und Klicklaute zu sein, die sein Herrchen regelmässig ausstiess, wenn es nach ihm rief. Und die wie Fid’o klangen. Die Ironie entging ihm nicht. Und sein Herrchen war sich mit Sicherheit darüber bewusst.

An eine Dusche oder ein Klo mit weichem Klopapier konnte Charles sich kaum noch erinnern. Oder daran, sein Geschäft allein auf einem Klo verrichten zu können. Und der „Tag der Erkenntnis“ folgte erst zwei Jahre nach dem „Tag der Übernahme“.

Das die Menschen dieses Ereignis, den „Tag der Übernahme“, gar nicht wahrgenommen hatten, bestätigte nur die Dummheit der Menschen im Kollektiv. Auch diese Ironie entging Charles nicht. Schliesslich war er als Übersetzer tätig gewesen. Ein junger talentierter Sprach- und Musikwissenschaftler, der, an einer ehemals angesehenen Universität, den Doktorwürden entgegenstrebte.

Seine Ahnungen und Befürchtungen wurden von den politischen Führern der Menschheit, die damals in Verhandlungen mit den Mantodea, wie die Menschen sie nannten, da sie so sehr an Gottesanbeterinnen erinnerten, wie immer blasiert vom Tisch gewischt.

Wir wollen friedliche Koexistenz und einen Krieg können wir sowieso nicht gewinnen, waren die üblichsten Argumente. Und diese Argumente waren durchaus korrekt, daran war nicht zu zweifeln. Zudem gab es keine Möglichkeit zur Flucht. Die Menschheit hatte die Raumfahrt für kleinliche Streitereien um Ressourcen zu lange vernachlässigt. Sie wäre nicht fähig gewesen, noch nicht mal mit einer kleinen Gruppe, ins All zu flüchten.

Und sie hofften, dass die neuen Besucher vielleicht bei den Kleinigkeiten helfen könnten, die man als Kollektiv so angerichtet hatte. Wie die massive Klimaänderung, die ganzen Gifte, das ganze Plastik und die sich immer stärker ausbreitende steigende Radioaktivität, verursacht durch nicht mehr gewartete Kernkraftwerke, havarierte Atom-U-Boote, mit Uran angereicherte Munition und was es da so alles gab.

Dabei war es genau das, was die Mantodea angezogen hatte. Doch für solche sentimentalen Tagträumereien hatte Charles keine Zeit. Der Ruck an seiner Leine zeigte allzu deutlich, dass er wieder seine Pflicht vernachlässigt hatte, die Stimmungen seines Herrchens richtig zu deuten. Und er wollte nicht wieder am Nacken gepackt und durchgeschüttelt werden. Das Risiko eines vorzeitigen Todes war nicht von der Hand zu weisen.

Ein Mensch verträgt es nun mal schlechter als ein Hund, am Nacken gepackt und durchgeschüttelt zu werden. Wer Pech, oder auch Glück, so genau konnte man das nicht sagen, hatte, dem brachen die Halswirbel, so das er oder sie vom Hals abwärts gelähmt war. Jene Menschen hatten aber nicht lange zu leiden. Wie die Mantodea schon damals betonten, legten sie Wert auf „humanes“ Töten.

Ihre Desintegratoren verdampften ein Lebewesen bis zu Grösse eines Mantodea innerhalb von Bruchteilen einer Millisekunde. Die Nerven hatten noch nicht mal Zeit den Schmerz wahrzunehmen, bevor sie sich schon in ihre chemischen Bestandteile zerlegten. Welche, fein säuberlich getrennt, vom Sammler aufgefangen wurden, bevor sie sich in alle Winde verstreuen konnten.

Somit wurde eine nahezu hundertprozentige Verwertung der wertvollen Ressourcen sichergestellt. Ein Massstab, den viele Menschen seinerzeit auch an die Verwertung von getöteten Tieren und Pflanzen gestellt hatten. Wenn man schon ein Lebewesen tötet, sollte man es auch komplett verwerten. Und so wenigstens das Mindestmass an Respekt für dieses Leben zeigen.

Charles hüpfte sofort bei Fuss und versuchte sich so demütig wie möglich zu verhalten, während er vorsichtig, mit gesenktem Blick, die Situation zu erfassen versuchte. Mantodea waren so ungefähr vier Meter hoch, wenn sie sich nicht aufrichteten.

Sie waren ebenfalls Tracheenatmer, wie die Gattung auf der Erde, nach der die Menschen sie so leichtsinnig benannt hatten. Was bedeutete, dass dieser Planet noch nicht die Sauerstoffkonzentration aufwies, die ein Lebewesen dieser Grösse benötigte, um effektiv zu funktionieren. Man erkannte sofort die Pioniere, die es wagten, sich ohne Atmungshilfe, dem Klima dieses Planeten auszusetzen. Langsam, behäbig und fast faulttierhaft bewegten sie sich durch die Gegend.

Die Situation, die Charles immer noch nicht erfasst hatte, wurde ihm, nichtsdestotrotz, schneller bewusst, als ihm lieb war. Ohne eine Vorahnung befand sich Charles auf einmal zappelnd im festen Griff seines Herrchens, zwei Meter über dem Boden und wurde dann, mehrmals, in den Teich getaucht, an dem sie gerade vorbeiliefen.

Solange, bis der „widerliche Nackthund“, wie ihn sein Herrchen bezeichnete, vorzeigbar sauber war. Zumindest hatte er das Äquivalent einer Dusche gehabt. Auch wenn er nun frierend, zitternd und pudelnass neben seinem Herrchen stand und über die Absurdität von Respekt nachdachte. Dem betroffenen Lebewesen war der Respekt herzlich egal. Solange es noch lebte und eine Chance witterte.

Und Charles vermied, Dorothea, den Nackthund des anderen Mantodea, auch nur anzusehen. Die ihn ebenfalls ignorierte und sich auf ein zierlich anmutende Art und Weise versuchte zu putzen. Charles musste an Katzen denken. Und trotzdem immer wieder auf Dorotheas schwere Brüste schauen.

Im Allgemeinen mochten es die Mantodea nicht, wenn sich ihre Nackthunde zu nahe kamen. Insbesondere wenn sie ein unterschiedliches Geschlecht aufwiesen. Niemand wollte sich mit der Brut von Nackthunden abgeben. Dies blieb einigen Züchtern vorbehalten, die die Aufgabe hatten, einen begrenzten Vorrat an Nachwuchs bereitzustellen. Zumindest solange es bei den Mantodea Mode war, sich einen Nackthund zu halten. Einen Nutzen hatten die Menschen kaum für sie.

Es lief auf die gleiche Geschichte wie bei Menschen und Hunden heraus. Das Arschloch war immer am Ende der Leine. Und Hunde, wie auch jetzt Menschen, dienten nur dazu, die sozialen oder sexuellen Defizite ihrer Besitzer zu kompensieren. Und somit Verhaltensauffälligkeiten zu dämpfen, die in komplexen Zivilisationen eher störend waren. Und die Sozialstruktur der Mantodea war um Längen komplexer als die der Menschen, die gerade mal, so oberflächlich, den Primaten abgeschüttelt, oder besser gesagt, unterdrückt hatten.

Das Liebesleben der Mantodea war so komplex und unübersichtlich, dass Charles schon lange den Versuch aufgegeben hatte, auch nur wenigstens einen Bruchteil zu verstehen. Zumindest konnte er halbwegs die Geschlechter, von denen es mehrere gab, unterscheiden. Und, ob sein Herrchen, zu der betreffenden Person hingezogen oder von ihr abgestossen war. Auch wenn dies kaum offensichtlich wurde, wenn sein Herrchen mit seinesgleichen kommunizierte.

Allenfalls die nachträgliche Behandlung von Charles verriet ihm Hinweise. Wurde er, wenn sie wieder allein waren, freundlich behandelt, dann war sein Herrchen dem betreffenden Kommunikationspartner wohlwollend gesonnen. Im anderen Fall war es durchaus empfehlenswert, dass Charles sich, so gut wie möglich, verkroch und nicht weiter auffiel. Solange, bis die Schimpftiraden und das Wutgestampfe nachgelassen hatten.

Das Witzigste an allem war jedoch der Umstand, dass es Charles überhaupt nicht mehr stören sollte, wenn er pissen, scheissen und kopulieren in aller Öffentlichkeit vollzog. Seinerzeit war die Entwicklung der Technik soweit vorangeschritten, dass kein Mensch mehr ein unbeobachtetes Leben führte. Jeder Schritt wurde überwacht und die Narzissten dokumentierten sogar gern und bereitwillig jeden Kleinscheiss aus ihrem erbärmlichen Leben. Selfies, Parties, Essen, das Baby rülpst das erste Mal – alles wurde digital dokumentiert. Ob es jemanden interessierte oder auch nicht. Was dort noch fehlte wurde von den schlaflosen digitalen Assistenten aufgezeichnet und dokumentiert. Der Mensch war ein gläserner Mensch geworden und flüchtete sich dennoch in die Illusion einer Privatheit, die längst nicht mehr existierte.

Fünf oder zehn Jahre mochten ihm noch bleiben, bis er zu alt sein würde. Dann würde man ihn einschläfern, nein, desintegrieren und seine Bestandteile dem ewigen Kreislauf wieder hinzufügen. Zu alt, zu lahm, zu hässlich oder auch charakterlich zu verdorben vom Einfluss seines Herrchens oder wie auch immer die Bezeichnung für das jeweilige Geschlecht gewesen wäre.

Herrchen war einfach die richtige Bezeichnung. Kein Herr oder Herrscher über grössere Dinge, sondern nur ein kleiner Möchtegern-Herrscher über kleinere, wehrlose Dinge. Ein Arschloch, am Ende der Leine. Definitiv.

Das änderte natürlich nichts daran, dass Charles mittlerweile einen Ständer hatte. Die verstohlenen Blicke auf die Brüste von Dorothea wurden von seinem verräterischen Körper einfach in Taten umgesetzt. Auch Dorothea war dies aufgefallen. Das Glitzern in ihren Augen schien auch eher auf Wohlwollen, denn auf Unbehagen hinzudeuten.

Würde es möglich sein, den Akt halbwegs zu vollziehen, bevor sie getrennt oder auch desintegriert würden. Hatte er sich nicht in alten Zeiten gedacht, der schönste Tod wäre, beim Geschlechtsakt zu sterben? Was eine ziemlich egoistische Sicht der Dinge ist, wenn der andere Partner dabei nicht auch stirbt.

Die Tünche der menschlichen Zivilisation war noch nie besonders dick. Mittlerweile war sie hauchdünn. Und bevor Charles Vernunft auch nur irgend einen Vorschlag machen konnte, stürzte sich Charles Körper mit dem Gefühl „Ficken und wenn ich dabei untergehe“ auf Dorothea. Die, welch „Wunder“, dem gleichen Instinkt folgte. Das alte Rein-Raus-Spiel in Zeitraffer.

Zu seiner Bestürzung gaben ihre Herrchen nur Pfeif- und Klicklaute der Belustigung von sich, während er sich in Dorothea ergoss und den wogenden Busen an sich spürte.

Die Belustigung hielt jedoch nicht lange an. Schon wurde an den Leinen gezerrt und Charles erlebte sein zweites Bad für den heutigen Tag, nachdem er mit triefendem Schwanz aus Dorothea rausgezogen wurde.

Es würde also noch eine Weile dauern, bis er auf die Desintegration hoffen durfte …

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