Moral und Zivilisation im 21ten Jahrhundert

Disclaimer: Dies sind meine empirischen Erkenntnisse. Ich freue mich über jeden wissenschaftlich fundierten Gegenbeweis. Fundiert bedeutet Doppelblindstudie und Samplegrösse > 1000 (mindestens, es ist ein gesellschaftliches Verhalten, kein spezifiziertes Einzelverhalten).

Das Einfache zuerst:

Wir haben keine Moral und Zivilisation erst recht nicht! Denn wir schweigen, wenn wir reden sollten.

Ich versuche das mal nachfolgend zu erläutern. Das hängt leider von Erfahrung und Erkenntnis ab, die ich bewusst und unbewusst voraussetze.

Einfaches Erkenntnis-Beispiel: Ich habe es geschafft, die Hecke zu Nachbars Garten zu überwinden um die reifen Äpfel, die ich sah, zu klauen. Als ich auf Nachbars Grundstück bin, erkenne ich die Hunde, die auf mich zurasen, die Hecke zum anderen Nachbarn, die noch höher ist, als die Hecke zwischen uns und die Schwierigkeit alles wieder so zu sehen, wie es vorher schien.

Erkenntnis ist ein unumkehrbarer Prozess. Daher gilt aus meiner Sicht:

Moral wird dann zum zivilisatorischen Gut, wenn sie geäussert wird und diskutiert werden kann.

Wenn sie mit Waffengewalt durchgesetzt wird, ist es keine Moral mehr, sondern ein zwingendes Normativ, dem man sich nur mit Todesgefahr entgegenstellen kann. Was immer noch sinnvoll ist, aber nicht von jedem erwartet werden kann.

Zum Wohle des eigenen Lebens oder des Lebens der Kinder geht man oft Kompromisse ein, die moralisch (in Bezug auf die eigene Moral) verwerflich sind.

Macchiavelli befand es, um es beschönigend zu sagen, als unintelligent, sich ohne entsprechende Macht gegen die herrschenden Realitäten zu stellen.

Das heisst im Umkehrschluss, alles was strafbewehrt und machtmässig (Staaten, Unternehmen …) sanktionierbar ist, sollte tunlichst unterlassen werden, wenn man nicht die notwendigen Armeen hat.

Dummerweise gehen wir, wie immer, viel weiter. Vorauseilender Gehorsam könnte man freundlich sagen. So tief in den Arsch des Mächtigeren kriechen wie möglich, scheint allerdings etwas exakter zu sein.

Wes‘ Brot ich ess, des‘ Lied ich sing.

„Blockwart“ mag in der Zeit zwischen dem 19ten und 21ten Jahrhundert noch ein Begriff sein, der diese Eigenschaften subsummiert.

Aber gehen wir zurück zum Primaten, zu unserem Wesen.

Wenn ein beliebiger Primat von anderen immer wieder darauf hingewiesen wird (die einzige Sanktion ist der Hinweis und die persönliche Hilfsbereitschaft für das hingewiesene Subjekt, nicht mehr, nicht weniger), dass das Verhalten gesellschaftlich unakzeptabel sei, dann gibt es mindestens folgende Entwicklungsmöglichkeiten, mit all den Graubereichen zwischen den Extremen:

Der Primat stellt dieses Verhalten ein oder der Primat sorgt dafür, dass es keine Zeugen für dieses Verhalten gibt (oder beides Schnittpunkt schwarz/weiss). Die unwahrscheinliche Variante (Ausnahme, die die Regel bestätigt) ist der Fall, dass der beliebige Primat dies kontinuierlich ignoriert. Falls er noch clever ist (unwahrscheinlich, aber nicht unmöglich, wie die Geschichte zeigt), begnügt er sich nicht mit Ignorieren, sondern gründet eine „Religion“, die es im ermöglicht, seine Verhaltensweise als Standard anzusehen.

Hinweis und Bereitschaft zur Hilfe sind unabdingbar miteinander verbunden, wenn nicht die Ausnahme zur Regel werden soll.

Denn wenn sich durch den Hinweis nichts ändert für den beliebigen Primaten, wird er/sie/es dies als Aufforderung auffassen, mit dem kritisierten Tun so fortzufahren.

Eine aggressive Durchsetzung der eigenen Moral mit Gewalt (physisch wie psychisch) wird hingegen in den meisten Fällen den beliebigen Primaten in seinem Widerspruchsgeist stärken, also kontraproduktives Verhalten produzieren oder zu einer Schwachstelle in den persönlichen Beziehungen werden (Warten auf die Gelegenheit zur Rache).

Man kann die fehlende Bereitschaft zur Hilfe als aggressiven Akt werten, aber es bleibt ein passiv aggressiver Akt.

Da der beliebige Primat ohne Gemeinschaft nicht überlebensfähig ist, egal ob wir als Rudel oder Ameisenstaat organisiert sind, ist die naheliegende Reaktion, mit entsprechend zeitlicher Verzögerung (der Mensch lernt langsam, wenn überhaupt), der Versuch des beliebigen Primaten sich, innerhalb des Graubereichs und der eigenen Erkenntnisfähigkeiten, an die Gemeinschaft anzupassen.

Fehlt der Hinweis oder die passive gesellschaftliche Sanktionierung, dann wird der beliebige Primat beliebig lange mit seinem Verhalten fortfahren. Er wird sogar versuchen, diese Verhalten auszuweiten. Um die Grenzen zu erkennen.

Denn ein Primat, der die Grenzen seines Überlebens nicht kennt, überlebt in der Regel nicht lange. Deswegen testen alle Primaten und auch alle Säugetiere, möglicherweise alles Leben, die Grenzen des Systems, in dem sie sich befinden.

Man kann das gut an Kindern sehen. Gib ihnen ein Verbot und beobachte sie bei den vielfältigen Versuchen, dieses Verbot zu umgehen, idealerweise ohne es zu brechen (ist wahrscheinlich der einzige Ansatz von Intelligenz, den wir bis jetzt vielfältig bewiesen haben).

Dies ist vielleicht auch das einzige Alleinstellungsmerkmal des Homo Möchtegern-Sapiens, Ganz-Weit-Weg-Von-Sapiensis:

Dass wir zu dem Mittel greifen, die Umwelt bewusst und massiv zu verändern, um eine erkannte Grenze zu umgehen.

Die meisten Lebensformen wählen einen langsameren Weg und respektieren erkannte Grenzen für das Erste. Was nicht heisst, alle Versuche der Umgehung einzustellen. Wenn es anders wäre, wäre es kein Leben.

Der Hinweis, als Grenze, ist eine aggressive Reaktion, da brauchen wir nichts beschönigen. Die Durchsetzung des Hinweises mit Gewalt ist aber ein davon abgelöstes Thema. Durchaus üblich bei beliebigen Primaten. Aber selten zielführend, ausser das es eine herrschende Rangordnung bestätigt oder über den Haufen wirft.

Zivilisation, der Weg dahin, aus meiner Sicht, ist der Hinweis mit passiv agressiver Sanktionierung (zukünftig fehlende Hilfsbereitschaft, Hilfe kostet einfach mehr und ist nicht für Verständnis der Situation zu haben):

Es gibt keinen äusseren Zwang, nur den Zwang der inneren Erkenntnis. Und Erkenntnisfähigkeit ist ein Grundpfeiler von Zivilisation, wie ich sie verstehe.

Ansonsten wären wir nur das gerade mächtigste Rudel von Idioten auf diesem Planeten.

Möglicherweise ist auch Zivilisation als Begriff irreführend, abgeleitet von civis, dem römischen Bürger, verallgemeinert zu Bürger. Teil einer grösseren Interessengemeinschaft. Nicht mehr zwingend römisch, aber immer noch zwingend menschlich.

Um es anders zu sagen, jedes Tier, jede Pflanze, jeder Mensch, jedes Leben ist Teil der Lebensgemeinschaft auf diesem Planeten. Der endlich ist, egal ob Scheibe oder Kugel (sorry, meinen Sarkasmus mag ich nur bedingt kontrollieren).

Bürger dieser Lebensgemeinschaft zu sein ist für mich Zivilisation. Das heisst jetzt nicht, dass ich mich nicht mehr von anderen Bürgern dieser Lebensgemeinschaft ernähren darf. Das macht alles Leben. Bloss weil die Pflanzen die Energie aus der Sonne beziehen und dem organischem Humus der Hinterbliebenen, sind sie keinen Deut besser. Alles Leben bezieht Energie von anderem Sein.

Das ist weder gut noch böse. Es ist einfach so. Ein unabdingbarer, physikalisch erklärbarer, Wesenszug dieses Universums und des Lebens, das wir kennen. Ohne Energie ist die Party sofort vorbei. Für die Schlaumeier: Zeige mir ein funktionierendes Perpetuum Mobile.

Im Idealfall ist es ein ausgeglichenes Geben und Nehmen. Der Zielpunkt dessen, was ich unter Zivilisation verstehe.

Zurück zum Thema. Moral, nach menschlichen Massstäben, ist im Wesentlichen die Ausformung einer emotionalen Einstellung, die einem sagt, wie es, subjektiv, richtig wäre. Was das korrekte Verhalten in einer bestimmten Situation erwartungsgemäss wäre.

Moral sagt primär nichts darüber, ob derjenige, der den Moralgrundsatz ins Spiel bringt, sich auch an die entsprechenden Grundsätze hält.

Aktuell („zivilisatorisch“) ist Moral die Durchsetzung von Glaubensgrundsätzen, für die eine Mehrheit requiriert werden konnte. Die Methoden dafür sind unterschiedlich. Die Moral ist unterschiedlich.

Bis zur Corona-Krise war Moral ab ungefähr 1990, gesellschaftlich gesehen, nicht mehr existent. Es gab keinen common sense, wie der Engländer sagen würde. Jeder möge nach seiner Auffassung glücklich werden. Solange ich nicht direkt betroffen bin, halte ich mich raus. Zurückgezogen auf die westlich geprägte Egozentrik.

Lebst du schon oder machst du noch Selfies, könnte man überspitzt dazu sagen.

Mal ein konkretes Beispiel. Nehmen wir die Schweiz, die gerade in den 90ern von Resteuropa oder 80ern der USA ankommt. Es gab da einen netten Film zur Einwanderungsproblematik: Un franco, 14 pesetas.

In diesem Film gibt es eine wunderbare Hinweis-Stelle. Gesellschaftlicher common sense. Der Spanier wirft im Zug seinen Abfall, wie gewohnt, auf den Boden (die besten Kneipen in Spanien findet man, in dem man auf den Boden schaut, wo es sauber ist, da ist nichts los). Eine alte Schweizerin bemerkt dies. Erhebt sich und wirft den Abfall in den dafür vorgesehenen Abfallkübel. Ihre Körpersprache macht klar, dass dies kein gesellschaftlich toleriertes Verhalten ist. Gleichzeitig zeigt sie wie man es richtig macht. Und ballt, wie es beim diplomatischen Schweizer so oft der Fall ist, die Faust im Sack. Ohne unfreundlich zu werden. Passiv aggressiv halt.

Nur zur Klarstellung. Heutzutage wird man dieses Verhalten nur noch in abgelegenen Orten der Schweiz finden, nicht in den verstädterten Bezirken. Hier herrscht, wie überall in der sogenannten „westlichen“ Welt, das Prinzip der absoluten Nichteinmischung. Mach du dein Ding, ich mach mein Ding, solange es nicht mich betrifft, ist es mir egal.

Oder, wie man in Bayern, auf deutsch übersetzt, sagt: Nicht weiter denken, als eine Sau hüpfen kann.

Denn wenn man sich nicht mehr der Abhängigkeiten bewusst ist, der Gemeinschaft, die man benötigt, um überhaupt asozial zu werden (mein Strom kommt aus der Steckdose, was brauch ich Infrastruktur, der Supermarkt um die Ecke hat alles was ich brauche, warum sollte ich mit dir reden …), dann ist die „Gemeinschaft“ am Ende. Die Zivilisation erst recht.

Klar, dieses westliche System ist bestrebt, uns vergessen zu machen. Uns in einen exklusiven Konsumkokon einzuweben und dann zu melken. Das einfache Leben. Energie finden und nutzen. Primär egozentrisch (Was kann man wahrnehmen?).

Der alte Primat halt. Den es in den Zustand der Zivilisation zu überführen gilt. Allerdings nur, falls man sich das sapiens zum homo verdienen will.

Dummerweise gibt es kein Zurück. Der Zeitstrahl ist da eindeutig. Nicht so, wie Fish in einem Song sagte “ … it’s like dancing, one step forward, two steps behind …„. Wenn es so wäre, wären wir längst wieder auf den Bäumen oder in Erdhöhlen.

Es sind eher drei Schritte vorwärts, zwei Schritte zurück. Wenn man unser zivilisatorisches Entwicklungstempo beschreiben will.

Obwohl mich die aktuellen Entwicklungen fast davon überzeugen, dass Fish aktuell Recht hat.

„Warte, warte nur ein Weilchen, dann komm ich mit dem Hackebeilchen“ war höchstwahrscheinlich die Basis für Occam’s razor.

Okay, okay, zurück zum Punkt. Zivilisation und Moral, nicht war?

Zivilisation ist ohne Moral nicht machbar. Punkt.

Welche Moral ist eine Frage, die sich die jeweilige Zivilisation anhand ihres Bewusstseins und ihrer Wahrnehmung stellen muss. Dies ist eine höchst veränderliche Variable, die nicht NULL sein darf.

Seit 1990 bis zur Corona-Krise hatte dies Variable den Wert NULL, Nichts.

Weswegen es keine Zivilisation mehr gibt. Jeder ist sich selbst der Nächste.

Es gelten (immer noch) keine gemeinsam freiwillig akzeptierten und als sinnvoll empfundenen Regeln, ausser sie werden mit Gewalt umgesetzt (zwingendes Normativ). Ich rede von Masse, nicht von den Einzelfällen, die sicher jeder kennt. Wenn auch nur vom Hören-Sagen, meistens.

Sicher, wir haben „Faktenchecker“ für „mündige“ Bürger. Also so wie im Mittelalter, auf der Kanzlei wird vorgelesen, man betet nach. Oder Verbot und Zensur von Propaganda. Also Propaganda, die nicht der unseren entspricht. In einem System, dass sich für Meinungsfreiheit und viele andere Sachen rühmt, aber den Ruhm noch nicht im Ansatz Wert ist.

Kriegshetze ist auch wieder en vogue. Ohne hinterfragt zu werden. Oder hinterfragt werden zu können. Foren sind geschlossen oder zensiert-moderiert. Meinungen sind nicht gefragt. Erst recht nicht, wenn sie abweichend sind. Riecht alles ein bisschen nach Inquisition. Na klar, auch mein Diskussionforum ist geschlossen, da ein Privatperson das finanzielle und gesellschaftliche Riskio gar nicht mehr stemmen kann.

Aber wir haben wieder eine Moral. Medial erzeugt und hollywood-geprägt. Doch es gibt eine Moral für die sich eine Mehrheit hat requirieren lassen. Wer will schon so genau wissen, welche Methoden verwendet wurden?

Jetzt, liebe Mitlebewesen, wird es schwierig. Zivilisation, sagte ich, ist nicht ohne Moral möglich. Ja, genau. Aber nicht jede Moral ist der Zivilisation zuträglich. Blöd jetzt, gell?

Insbesondere, weil ich euch nicht sagen kann, WELCHE Moral die Richtige ist oder wäre. Hängt sicher auch vom Zeitpunkt und den Umständen ab.

Zudem ist eine indoktrinierte, konditionierte Moral, historisch gesehen, durchaus berechtigt. Die meisten Religionen haben sich der Hygiene schuldig gemacht, um es so zu sagen. Wenn die Deppen sich nicht aus rationalen Gründen waschen, dann sorge mit entsprechenden Ritualen dafür … die stark gläubigen Idioten werden sich wie blöd waschen und daher eher überleben als die anderen …

Somit kommen wir zum Kernpunkt der Moral:

Die Überlebensfähigkeit der Gemeinschaft bestmöglich sicherzustellen.

Um zur Zivilisation ohne Einschränkung auf römische Bürger zu kommen, muss die Lebensgemeinschaft auf alles Leben ausgedehnt werden.

Hier ist der weite Bogen, den ich gespannt habe, zu Ende:

Um Zivilisation zu erreichen, benötigen wir eine Moral die gemeinschaftlich verankert ist und gelebt wird. Und wir brauchen ein neues Verständnis von Lebensgemeinschaft, das nicht homo-zentriert* ist.

Vom ersten Punkt sind wir weit entfernt, auch wenn die faktische Kraft des Normativen eine Moral erzwingt, die mehr als veraltet ist.

Vom zweiten Punkt sind wir noch viel weiter entfernt, da wir mittels Rassen/Ethnien, sexuellen Vorlieben und sonstigen Kriterien noch nicht einmal den homo-zentrierten Ansatz diskutieren können.

Schlaft gut.

Solange ihr noch könnt …

*homo-zentriert könnte von der homophoben Gemeinschaft (tu nicht so schwul …) falsch verstanden werden. homo ist lateinisch und bedeutet Mensch. Also mensch-zentriert. Alles klar?

Ein Hundeleben

Charles war jetzt 25, lange würde er es wohl nicht mehr, dachte er sich, als sein Herrchen an der Leine riss. Er hatte sein Geschäft noch nicht beendet, aber sein Herrchen war in Eile. Er versuchte sich den nackten Arsch am Gras der Wiese zu reinigen, indem er sich hinsetzte und erbarmungslos von seinem Herrchen weitergezogen wurde. Das scheuerte zumindest den gröbsten Dreck weg.

Sein Herrchen hatte ihn „Tag der Erkenntnis“ genannt. Zumindest schien das die Bedeutung der Pfeif- und Klicklaute zu sein, die sein Herrchen regelmässig ausstiess, wenn es nach ihm rief. Und die wie Fid’o klangen. Die Ironie entging ihm nicht. Und sein Herrchen war sich mit Sicherheit darüber bewusst.

An eine Dusche oder ein Klo mit weichem Klopapier konnte Charles sich kaum noch erinnern. Oder daran, sein Geschäft allein auf einem Klo verrichten zu können. Und der „Tag der Erkenntnis“ folgte erst zwei Jahre nach dem „Tag der Übernahme“.

Das die Menschen dieses Ereignis, den „Tag der Übernahme“, gar nicht wahrgenommen hatten, bestätigte nur die Dummheit der Menschen im Kollektiv. Auch diese Ironie entging Charles nicht. Schliesslich war er als Übersetzer tätig gewesen. Ein junger talentierter Sprach- und Musikwissenschaftler, der, an einer ehemals angesehenen Universität, den Doktorwürden entgegenstrebte.

Seine Ahnungen und Befürchtungen wurden von den politischen Führern der Menschheit, die damals in Verhandlungen mit den Mantodea, wie die Menschen sie nannten, da sie so sehr an Gottesanbeterinnen erinnerten, wie immer blasiert vom Tisch gewischt.

Wir wollen friedliche Koexistenz und einen Krieg können wir sowieso nicht gewinnen, waren die üblichsten Argumente. Und diese Argumente waren durchaus korrekt, daran war nicht zu zweifeln. Zudem gab es keine Möglichkeit zur Flucht. Die Menschheit hatte die Raumfahrt für kleinliche Streitereien um Ressourcen zu lange vernachlässigt. Sie wäre nicht fähig gewesen, noch nicht mal mit einer kleinen Gruppe, ins All zu flüchten.

Und sie hofften, dass die neuen Besucher vielleicht bei den Kleinigkeiten helfen könnten, die man als Kollektiv so angerichtet hatte. Wie die massive Klimaänderung, die ganzen Gifte, das ganze Plastik und die sich immer stärker ausbreitende steigende Radioaktivität, verursacht durch nicht mehr gewartete Kernkraftwerke, havarierte Atom-U-Boote, mit Uran angereicherte Munition und was es da so alles gab.

Dabei war es genau das, was die Mantodea angezogen hatte. Doch für solche sentimentalen Tagträumereien hatte Charles keine Zeit. Der Ruck an seiner Leine zeigte allzu deutlich, dass er wieder seine Pflicht vernachlässigt hatte, die Stimmungen seines Herrchens richtig zu deuten. Und er wollte nicht wieder am Nacken gepackt und durchgeschüttelt werden. Das Risiko eines vorzeitigen Todes war nicht von der Hand zu weisen.

Ein Mensch verträgt es nun mal schlechter als ein Hund, am Nacken gepackt und durchgeschüttelt zu werden. Wer Pech, oder auch Glück, so genau konnte man das nicht sagen, hatte, dem brachen die Halswirbel, so das er oder sie vom Hals abwärts gelähmt war. Jene Menschen hatten aber nicht lange zu leiden. Wie die Mantodea schon damals betonten, legten sie Wert auf „humanes“ Töten.

Ihre Desintegratoren verdampften ein Lebewesen bis zu Grösse eines Mantodea innerhalb von Bruchteilen einer Millisekunde. Die Nerven hatten noch nicht mal Zeit den Schmerz wahrzunehmen, bevor sie sich schon in ihre chemischen Bestandteile zerlegten. Welche, fein säuberlich getrennt, vom Sammler aufgefangen wurden, bevor sie sich in alle Winde verstreuen konnten.

Somit wurde eine nahezu hundertprozentige Verwertung der wertvollen Ressourcen sichergestellt. Ein Massstab, den viele Menschen seinerzeit auch an die Verwertung von getöteten Tieren und Pflanzen gestellt hatten. Wenn man schon ein Lebewesen tötet, sollte man es auch komplett verwerten. Und so wenigstens das Mindestmass an Respekt für dieses Leben zeigen.

Charles hüpfte sofort bei Fuss und versuchte sich so demütig wie möglich zu verhalten, während er vorsichtig, mit gesenktem Blick, die Situation zu erfassen versuchte. Mantodea waren so ungefähr vier Meter hoch, wenn sie sich nicht aufrichteten.

Sie waren ebenfalls Tracheenatmer, wie die Gattung auf der Erde, nach der die Menschen sie so leichtsinnig benannt hatten. Was bedeutete, dass dieser Planet noch nicht die Sauerstoffkonzentration aufwies, die ein Lebewesen dieser Grösse benötigte, um effektiv zu funktionieren. Man erkannte sofort die Pioniere, die es wagten, sich ohne Atmungshilfe, dem Klima dieses Planeten auszusetzen. Langsam, behäbig und fast faulttierhaft bewegten sie sich durch die Gegend.

Die Situation, die Charles immer noch nicht erfasst hatte, wurde ihm, nichtsdestotrotz, schneller bewusst, als ihm lieb war. Ohne eine Vorahnung befand sich Charles auf einmal zappelnd im festen Griff seines Herrchens, zwei Meter über dem Boden und wurde dann, mehrmals, in den Teich getaucht, an dem sie gerade vorbeiliefen.

Solange, bis der „widerliche Nackthund“, wie ihn sein Herrchen bezeichnete, vorzeigbar sauber war. Zumindest hatte er das Äquivalent einer Dusche gehabt. Auch wenn er nun frierend, zitternd und pudelnass neben seinem Herrchen stand und über die Absurdität von Respekt nachdachte. Dem betroffenen Lebewesen war der Respekt herzlich egal. Solange es noch lebte und eine Chance witterte.

Und Charles vermied, Dorothea, den Nackthund des anderen Mantodea, auch nur anzusehen. Die ihn ebenfalls ignorierte und sich auf ein zierlich anmutende Art und Weise versuchte zu putzen. Charles musste an Katzen denken. Und trotzdem immer wieder auf Dorotheas schwere Brüste schauen.

Im Allgemeinen mochten es die Mantodea nicht, wenn sich ihre Nackthunde zu nahe kamen. Insbesondere wenn sie ein unterschiedliches Geschlecht aufwiesen. Niemand wollte sich mit der Brut von Nackthunden abgeben. Dies blieb einigen Züchtern vorbehalten, die die Aufgabe hatten, einen begrenzten Vorrat an Nachwuchs bereitzustellen. Zumindest solange es bei den Mantodea Mode war, sich einen Nackthund zu halten. Einen Nutzen hatten die Menschen kaum für sie.

Es lief auf die gleiche Geschichte wie bei Menschen und Hunden heraus. Das Arschloch war immer am Ende der Leine. Und Hunde, wie auch jetzt Menschen, dienten nur dazu, die sozialen oder sexuellen Defizite ihrer Besitzer zu kompensieren. Und somit Verhaltensauffälligkeiten zu dämpfen, die in komplexen Zivilisationen eher störend waren. Und die Sozialstruktur der Mantodea war um Längen komplexer als die der Menschen, die gerade mal, so oberflächlich, den Primaten abgeschüttelt, oder besser gesagt, unterdrückt hatten.

Das Liebesleben der Mantodea war so komplex und unübersichtlich, dass Charles schon lange den Versuch aufgegeben hatte, auch nur wenigstens einen Bruchteil zu verstehen. Zumindest konnte er halbwegs die Geschlechter, von denen es mehrere gab, unterscheiden. Und, ob sein Herrchen, zu der betreffenden Person hingezogen oder von ihr abgestossen war. Auch wenn dies kaum offensichtlich wurde, wenn sein Herrchen mit seinesgleichen kommunizierte.

Allenfalls die nachträgliche Behandlung von Charles verriet ihm Hinweise. Wurde er, wenn sie wieder allein waren, freundlich behandelt, dann war sein Herrchen dem betreffenden Kommunikationspartner wohlwollend gesonnen. Im anderen Fall war es durchaus empfehlenswert, dass Charles sich, so gut wie möglich, verkroch und nicht weiter auffiel. Solange, bis die Schimpftiraden und das Wutgestampfe nachgelassen hatten.

Das Witzigste an allem war jedoch der Umstand, dass es Charles überhaupt nicht mehr stören sollte, wenn er pissen, scheissen und kopulieren in aller Öffentlichkeit vollzog. Seinerzeit war die Entwicklung der Technik soweit vorangeschritten, dass kein Mensch mehr ein unbeobachtetes Leben führte. Jeder Schritt wurde überwacht und die Narzissten dokumentierten sogar gern und bereitwillig jeden Kleinscheiss aus ihrem erbärmlichen Leben. Selfies, Parties, Essen, das Baby rülpst das erste Mal – alles wurde digital dokumentiert. Ob es jemanden interessierte oder auch nicht. Was dort noch fehlte wurde von den schlaflosen digitalen Assistenten aufgezeichnet und dokumentiert. Der Mensch war ein gläserner Mensch geworden und flüchtete sich dennoch in die Illusion einer Privatheit, die längst nicht mehr existierte.

Fünf oder zehn Jahre mochten ihm noch bleiben, bis er zu alt sein würde. Dann würde man ihn einschläfern, nein, desintegrieren und seine Bestandteile dem ewigen Kreislauf wieder hinzufügen. Zu alt, zu lahm, zu hässlich oder auch charakterlich zu verdorben vom Einfluss seines Herrchens oder wie auch immer die Bezeichnung für das jeweilige Geschlecht gewesen wäre.

Herrchen war einfach die richtige Bezeichnung. Kein Herr oder Herrscher über grössere Dinge, sondern nur ein kleiner Möchtegern-Herrscher über kleinere, wehrlose Dinge. Ein Arschloch, am Ende der Leine. Definitiv.

Das änderte natürlich nichts daran, dass Charles mittlerweile einen Ständer hatte. Die verstohlenen Blicke auf die Brüste von Dorothea wurden von seinem verräterischen Körper einfach in Taten umgesetzt. Auch Dorothea war dies aufgefallen. Das Glitzern in ihren Augen schien auch eher auf Wohlwollen, denn auf Unbehagen hinzudeuten.

Würde es möglich sein, den Akt halbwegs zu vollziehen, bevor sie getrennt oder auch desintegriert würden. Hatte er sich nicht in alten Zeiten gedacht, der schönste Tod wäre, beim Geschlechtsakt zu sterben? Was eine ziemlich egoistische Sicht der Dinge ist, wenn der andere Partner dabei nicht auch stirbt.

Die Tünche der menschlichen Zivilisation war noch nie besonders dick. Mittlerweile war sie hauchdünn. Und bevor Charles Vernunft auch nur irgend einen Vorschlag machen konnte, stürzte sich Charles Körper mit dem Gefühl „Ficken und wenn ich dabei untergehe“ auf Dorothea. Die, welch „Wunder“, dem gleichen Instinkt folgte. Das alte Rein-Raus-Spiel in Zeitraffer.

Zu seiner Bestürzung gaben ihre Herrchen nur Pfeif- und Klicklaute der Belustigung von sich, während er sich in Dorothea ergoss und den wogenden Busen an sich spürte.

Die Belustigung hielt jedoch nicht lange an. Schon wurde an den Leinen gezerrt und Charles erlebte sein zweites Bad für den heutigen Tag, nachdem er mit triefendem Schwanz aus Dorothea rausgezogen wurde.

Es würde also noch eine Weile dauern, bis er auf die Desintegration hoffen durfte …