Die Konsequenz

Jason war Fleischer. In einem Betrieb, einem industriell geführtem Betrieb, um genau zu sein. Täglich kam lebendes Fleisch rein und verliess den Ort als totes Fleisch. Nichts Besonderes, soweit es Jason betraf. Er filettierte bestimmte Stücke und stand weit hinten in der Verwertungskette. Es war eher eine mechanische Arbeit. Industriell eben.

Dann, an diesem Freitag morgen, sollte sich alles verändern. Es war ja nicht so, dass er nicht auch schon von multiresitenten Keimen gehört hätte. Im Zusammenhang mit Krankenhäusern. Zumindest.

Und klar, jeder kannte ihn soweit. Immer die gleichen Leute, mit denen man über die Dauer der Zeit und der Wiederholung fast zwangsläufig ins Gespräch kam.

Was seltsam war, an jenem Morgen, dass alle sich abwandten. Die meisten blickten in eine Richtung, in der sie vorgeben konnten, ihn nicht gesehen zu haben. Alle waren sofort von ihm abgerückt, als er den Bus betrat. Die Situation überforderte Jason derart, dass er nicht in der Lage war, auch nur irgendwie zu reagieren. Selbst der übliche Gruss blieb ihm im Halse stecken.

Und nur eine Frage beschäftigte ihn: Was habe ich getan?

Soweit er wusste, war er gestern weder auf Sauftour mit komatöser Heimkehr gewesen, noch, dass er eine Auseinandersetzung mit irgendjemandem gehabt hätte. Es war ein ganz normaler Routinetag.

Grüsse und Nicken auf dem Weg zur Arbeit, Scherze und Flüche während der Arbeit, Grüsse und Nicken auf dem Weg nach Hause. Dann ein gemütliches Bierchen zischen, etwas an der Gamekonsole abhängen, bei nem Film chillen, der noch zwei Bierchen erforderte. Und Chips.

Das war’s. So weit, so banal.

Als er seinen Badge an den Kontrollpunkt des Fabrikeingangs hielt, meinte er fast, eine seltsame Stimmung zu erhaschen. Als ob sich seine Kollegen heimlich in die Fabrik reinschleichen wollten. Und da, wer war dieser Typ mit dieser Lederjacke, der einfach nur rumstand. Als ob er immer da rumgestanden hätte. Dabei hatte Jason ihn noch nie vorher bemerkt.

Der Morgennebel tat das Seinige, um der Situation den richtigen Anstrich zu geben.

Als Jason sich an seinem Spind fertig machte für die nächste Schicht wurde es noch schlimmer. Seine Kollegen waren quasi verstummt. Ein gemurmeltes Hallo, ein knappes Nicken, jeder schien seinen eigenen Gedanken nachzuhängen.

Dann die Schicht, ein Gemetzel, im wahrsten Sinne des Wortes. Nichts funktionierte so, wie es funktionieren sollte. Wie Jason gewohnt war, dass es so funktionierte. Jason war es gewohnt, dass Tierhälften ankamen. Von denen er die Filetstücke extrahierte. Das diese Tierhälften ihn anstarrten, blöckten, muhten, quiekten, davon war weder in seiner Stellenbeschreibung die Rede, noch war Jason dieser Situation gewachsen.

Ganz zu Schweigen davon, dass es sich nicht um Hälften handelte. Zumindest in den weniger verstörenden Anlieferungen.

Jason liess zwar alles Leben, oder sollte man vielleicht eher von Halbleben und Extremleiden sprechen, passieren. Wie auch viele seiner Kollegen, aber versuchte doch noch, dass ein oder andere Filetstück herauszuschneiden, wenn das Exemplar alle Kennzeichen von Tod aufwies.

Was hiess, weder zuckte es, noch schaute es einen an, noch machte es Geräusche.

Zugegeben, die Kriterien, die Jason, völlig gerechtfertigt, wenn man seinen Arbeitsvertrag berücksichtigte, anwandte, führten natürlich zu einer gewissen Tatenlosigkeit. Seinen Kollegen ging es da keineswegs anders.

Bis Abasin aufstand, ein eher schmächtiger Inder, dem man sein Talent nicht ansah.

„Es ist genug!“

Das war alles was er sagte. Dann ging er.

Alle waren wie gelähmt. Da verlässt einer gerade die Schicht und sagt nichts! Nichts ausser es wäre genug, für wen auch immer. Das war noch nie passiert. Zumindest noch nie in einer Schicht, die Jason gehabt hatte.

Kaum einer bemerkte das Stoppen des Fliessbands als Abasin wieder da war und auf weiterhin oraklehafte Art verkündete:

“ Wir können nicht mehr raus!“

Vereinzeltes Gelächter ertönte. Als der Blick am Fliessband hängenblieb, dass gestoppt hatte, als alle sich der plötzlichen Stille bewusste wurden. Sicher, es quickte, muhte und blöckte immer noch, aber das Fliessband, das saubere Geräusch des erbarmungslosen Todes, war verstummt. Diese Stille also.

Diese Stille und das stehende Fliessband agierten wie ein Schalter für alle, einschliesslich Jason und bewirkten ein völlig synchrones Balett von Hälsen, Mündern und Ohren.

Sicher wäre es kaum zu entziffern gewesen, rein akustisch. Aber jeder, ausnahmslos jeder, drehte sich zu Abasin um und meinte, irgendwie:

„Was hast du gesagt?“

Wenn Abasin die Kunst des Verschwindens beherrscht hätte, er hätte sie angewandt. Angeleuchtet von den Scheinwerfern der Augen seiner Kollegen, fast zitternd, wie ein verängstigtes Reh, wurde diesen Kollegen, wie auch Jason, bewusst, dass Abasin tatsächlich Angst hatte. Aber nicht vor ihnen.

„Wir können nicht mehr raus. Die Tore sind von aussen blockiert. Wir sind hier eingeschlossen!“

Für einen Moment übertönte das Geschnatter der Kollegen sogar das Muhen, Quieken und Blöcken.

Jason wandte sich an Karl neben ihm.

„Haben dich die Leute im Bus eigentlich auch geschnitten? Heute morgen?“

Ein kurzes Nicken, sonst kein Wort.

Verdammt, dachte Jason, was zum Teufel ist hier los?

Die Sirene und Betriebsdurchsage brachte auch keine Klarheit.

„Hier spricht die Betriebsleitung. Wir befinden uns derzeit in einem Belagerungszustand. Die Terroristen, die die Belagerung durchführen, haben uns zum Seuchen- und Quarantäne-Gebiet erklärt. Die Polizei ist informiert und bereitet eine Lösung vor.“

Es war mal wieder Abasin, der alle mit mehr Informationen beglückte, auch wenn diese Wortwahl in diesem Zusammenhang fast nur zynisch interpretiert werden kann.

„Es gab eine Sendung, keine Ahnung wo. Irgendwas von multiresistente Keime. Und das wir sie in uns haben. Wegen dem Antibiotika, was die Tiere bekommen. Und dann gab es nen Shitstorm auf Social Media. Überall. Und jetzt werden alle Schlachterei belagert. Aus deren Sicht müssen wir in Quarantäne bleiben. Was die Polizei und die Armee macht? Wer weiss das schon. Ich glaube, Freunde, wir sitzen in der Scheisse.“

Im Anspruch denken – Das Zeitalter der Egozentrik

Immer wieder bin ich überrascht, wie stark wir (ja auch ich bin nicht frei von dieser Sünde) in Anspruchsdenken verfallen. Oft aus Gewohnheit heraus. Man ist gewohnt, auch das ungewöhnlichste Gemüse oder Südfrüchte jeden Tag im Supermarkt zu finden. Man entwickelt einen Anspruch.

Das merkt man dann, wenn irgendetwas einmal nicht da ist. Sehr oft regt man sich darüber auf. Das gleiche, wenn mal das Internet nicht geht, der Strom ausfällt oder der Partner nicht genau das gemacht hat,  was man erwartet hat. Was man für sich in Anspruch nimmt.

Dabei werden wir nackt geboren. Ohne irgendetwas. Hilflos, meist eher hässlich, aber dank Kindchenschema scheinen die Eltern genau das zu lieben. Was einem meist das Leben rettet. Wir haben das Glück gehabt, dass jemand uns gefüttert hat, die Windeln gewechselt hat, uns gezeigt hat, wie man dieses und jenes macht. Dabei hatten wir nie einen Anspruch darauf.

Wir haben nur Glück gehabt. Und freundliche Menschen, die sich um uns freiwillig gekümmert haben. Und nicht weil wir einen Anspruch darauf hätten.

Es scheint mir, wir sind es mittlerweile so gewöhnt, selbstverliebt zu sein und etwas, dass gegeben wurde, als Anspruch zu sehen, dass wir vergessen haben, dass zum Nehmen auch das Geben gehört. Und das es viel anspruchsvoller wäre, weitmöglichst anspruchlos zu sein. Frei von Erwartungen. In der Lage, das Leben so zu nehmen wie es ist. Und sich daran zu freuen, was ist. Anstatt zu bedauern, dass etwas nicht ist.

Allein, im Zeitalter der ständig eingeübten Egozentrik (Hit me hard, hit me quick, with your fucking Selfiestick), ein Zeitalter in dem der grosse Teil der Herde solchen Vergnügen frönt, ist es schwierig, gegen den Strom zu schwimmen. Kaum lässt die Aufmerksamkeit nach, schwimmt man schon wieder mit der Herde.

Wahrscheinlich muss das so sein. Bis es so ausgelutscht ist, wie Hollywood-Filme oder Werbung. Bis man einfach genug davon hat. Sich sozusagen ordentlich überfressen hat und dann wieder zu einem normalen Mass findet.

Allein, ich weiss es nicht. Aber schön, mal ehrlich, finde ich es auch nicht …

Tagebuch eines Nihilisten #2

Und nu?

Hey echt, Busen erkennen, Augen erkennen und so … is nicht!

Lungen funktionieren, Herz funktioniert, Saufen und Scheissen funktioniert, alles prima. Muss so gewesen sein, oder? Wie könnte ich sonst von etwas berichten, von dem ich keinen blassen Schimmer habe?

Klar, habe es bei meinen Kindern und Enkeln gesehen. Muss so gewesen sein …

So oder so ähnlich.

Ich weiss es einfach nicht. Nicht mehr … vielleicht. Oder vielleicht auch nicht. Ausserdem habe ich wahrscheinlich sowieso die meiste Zeit geschlafen. Wenn man den Berichten aus der Vergangenheit Glauben schenken mag.

Wahrnehmen! Wie wahr. Alles ist wahr. Alles wird wahr. Ist Hier und Jetzt. Wie auch gerade eben, in diesem Augenblick, in dem ich viel viel älter als Tag zwei bin.

Begreifen? Nein, dafür bin ich noch zu klein. Klar klammert sich meine Hand um einen Finger. Aber ist das schon begreifen? Oder nur Reflex? Oder beides?

Wie schön, das ich noch nichts weiss. Und wie dumm, dass ich noch so vieles wissen möchte. Um festzustellen, je mehr ich weiss, desto mehr weiss ich, dass ich nichts weiss. Der perfekte Kreislauf …

Komische Sache auch, dass mit dem Begreifen. Der Körper scheint schon alles zu wissen und das Gehirn sieht nur Rauschen. Wie der Schnee auf alten Fernsehbildschirmen nach Sendeschluss. Die Hand klammert, der Mund saugt, der Arsch scheisst, da funktioniert schon alles. Ausser dieser kleine Teil, der so bestimmend werden wird. Dieses Ich, dass zum Glück noch gar nicht da ist.

Oder doch? Wann wird der Kopf das Ich entdecken und wie wird er damit klarkommen, alles völlig interessante Fragen, die mich damals, Tag 2, mit Sicherheit einen Scheissdreck interessiert haben.

Schlafen, Saufen, Rülpsen, Scheissen, Schreien, Gucken ohne zu Sehen. Hoffen das jemand da ist, wenn man aufwacht und Hunger hat. Blöd auch, dass man damals meinte: Hey lass es nur schreien, dass gibt kräftige Lungen. Aber weiss ich davon? Im Sinn von wirklich wissen? Erfahrung, die man erinnert?

Jo, kräftige Lungen habe ich schon, aber was heisst das jetzt?

Und Erfahrungen, die man erinnert? Nee, nee, nee, das ist nicht Thema von Tag 2. Da wusste ich ja noch nicht mal, dass es die Illusion der Erinnerung gibt …

Warum kann mein Körper schon leben und mein Geist ist noch schwach? Nicht, dass sich dies je geändert hätte. Fragen, die ich mir glücklicherweise noch nicht stellen kann.

Es geht erstmal nur um Grundbedürfnisse und Prägung. Nicht das ich da einen Einfluss drauf hätte. Oder gar Erinnerungen. Aber wenn man andere Babies so sieht, na ja, man kann sich ganz knapp, mit viel Anstrengung, vorstellen. Jo Mann, so ein kleiner Scheisser muss ich auch mal gewesen sein.

Was jetzt völlig spekulativ ist, wie das Leben im Allgemeinen . Hää? Hat das jetzt was mit Tag zwei zu tun?

Nö, wie auch, ich erinnere mich ja auch nicht an Tag 2. So what?

Warum ich euch das erzähle? Keine Ahnung. Ich bin ja noch nicht mal sicher, ob es euch gibt, Und das Tagebuch ist ein schnöder Betrug. Ich konnte am Tag 2 sicher noch nicht schreiben. Die Erfindung von Textverarbeitungsprogrammen war noch in weiter Ferne. Gänsekiel und Tinte hätten auch nicht geholfen.

Nein, jetzt mal ehrlich. Dieses Tagebuch ist Lug und Trug. Ich erinnere mich nicht mehr und ich weiss es auch nicht.

Und ihr? Ja, jetzt guck nicht so, ja, ihr da draussen, ach Mist, okay, war ein Spiegel, also ihr meine Ichs, da draussen, die ihr in mir drin seid, oder auch nicht, könnt ihr mir helfen, rauszufinden, was ich sagen wollte?

Zumindest ist das Nein, dass mir von mir selbst entgegenbrettert, vielstimmig und machtvoll.

Götter …

Der Gott der Widerspenstigkeit
der … der tut mir jetzt schon leid
Wenn ich ihn einst werd‘ sehen
Wird ihm das Lachen wohl vergehen

Prometheus‘ Schicksal wird wie Urlaub ihm erscheinen
Wenn Faust und Zorn in seiner Fratze sich vereinen
Doch das wird nur ein Zeitvertreib
Ich rück ihm richtig auf den Leib

Was er auch anpackt, ich bin da
Versau es ihm, ganz wunderbar
Lass‘ nie nicht zu, dass ihm gelinge
Und bin dabei noch guter Dinge

Ein Sticheln hier, ein Scheitern da
Vielleicht wird ihm dann endlich klar
Wie es sich anfühlt all die Zeit
Wenn Widerspenstigkeit ihn stündlich freit

Was? Solch Gott hat’s nie gegeben?
Ach wart’s nur ab, dann wirst auch du’s erleben
Der Mensch, dass ist doch sonnenklar
Erschafft die Götter, macht sie wahr

Kein Gott würd‘ wandeln in der Welt
Wenn Mensch dem Gott nicht Treue hält
Wenn Glauben nicht den Gott erschafft
Und ihn erfüllt mit Menschenkraft

Ach nee, du glaubst es nicht, na und?
Vielleicht gab’s ja ’nen Götterschwund …
Drum schaff‘ ich mir, vermittels Leid
Den Gott der Widerspenstigkeit

Wenn du ihn siehst, wirst du’s erkennen
Du kannst ihn gern auch anders nennen

Freier Fall

Nun, er hatte Glück! Immerhin hatte er nicht, wie andere, darauf bestanden, dass er keine Kinder wöllte. Er meinte, lassen wir’s drauf ankommen, was ihm viel Ärger und Frust ersparte. Dafür jede Menge anderen Frust und Ärger einbrachte.

Ganz im Gegensatz zu den anderen Männern, die keine Kinder wollten, sie aber trotzdem bekamen. Und wenn Frau dazu auf die Samenbank gehen musste, um nachher den Vater in die Pflicht zu nehmen. Gegen biologische Imperative kämpft man nicht an! Das Leben war auch so schon kompliziert und enttäuschend genug. Frag Marvin, wenn du es nicht glaubst.

Dass dann diese Kinder da waren, half meist, es als Glück zu verklären. So wie das Glück von einem Güterzug frontal gerammt zu werden und es trotzdem zu überleben. Und was konnten die Kinder schon dafür? Keine Sorge, das Leben würde sich schon was Passendes ausdenken. Da konnte man sich, bei so einer unbeständigen Sache, wie dem Leben, sicher sein.

Leben? Ja, das war wohl der Gedanke, der ihn auf diesen Fenstersims gebracht hatte. Nein, er hatte nicht vor, dreimal so alt zu werden, wie das Universum, um dann, genau wie Marvin, sagen zu können: Leben? Erzähl mir nichts vom Leben …

Es würde heute enden, so oder so! Nicht das es eine Rolle gespielt hätte. Eigentlich war er doch schon seit Ewigkeiten so tot, wie Hot Black Desiato, nur nicht aus steuerlichen Gründen. Und Gründe sich zu beklagen hatte er sowieso nicht. Wie käme er dazu? Beklagt sich ein Surfer, wenn ihn die Welle erwischt?

Nun gut, ja, die meisten beklagen sich.

Aber ein Surfer im Herzen? Nie!

Ausser, wenn es keiner sieht!

Gnädiger gestimmte Menschen machten dann das Schicksal oder irgendwelche Götter verantwortlich. Weniger gnädige Personen, die Sorte, die, die man zuhauf an jeder Ecke trifft, machen eher andere Personen oder Dinge verantwortlich. Was vielleicht erklärte, warum so viele Leute mit vollem Bauch und Dach über dem Kopf tatsächlich meinten unglücklich zu sein.

Es gab natürlich eine Theorie, die besagte, dass man solche Probleme eigentlich nur mit vollem Bauch und Dach über dem Kopf hätte. Aber wie die meisten Theorien, war auch diese Theorie nur annähernd richtig, auch wenn der kausale Zusammenhang nicht gänzlich konstruiert war.

Das es eigentlich keine kausale Zusammenhänge gab, war nur eine Nebensächlichkeit, die dem Menschen nicht bewusst war. Nicht bewusst werden konnte, was aus der Tatsache resultierte, dass diese Lebensform auf einem Betriebssystem lief, dessen Treibstoff Kausalität war. Egal, ob es sie gab!

Alles musste einen Grund haben. Musste! Und wenn es einen Grund geben musste, gab es den auch. So einfach, so erheiternd!

Wollte er jemanden verantwortlich machen? Nein! Gewiss nicht. Naja, ein bisschen vielleicht. Eigentlich ganz entschieden!

Und das wäre ja, sogar gemäss der Meinung der Mehrheit, völlig im Einklang mit dem allgemeinen Verständnis von Leben gewesen. Das Dumme war nur, der einzige, der ihm einfiel, den er verantwortlich machen konnte, war unbestreitbar er selbst!

Was spielte das schon für eine Rolle, dass er seine Kinder aufgefordert hatte, ihn fertig zu machen, damit er einen Grund hätte, seine persönliche Misere endlich zu beenden. Er hatte sie schliesslich aufgefordert und sie hatten diesen Job sehr ernst genommen. Mehr kann man sich doch nicht von seinen Kindern erwarten? Zumindest in einem ironiefreiem Leben, in dem man alles wörtlich nimmt.

In einem kurzen Anfall von Verzweiflung hatte er daran gedacht, die Kinder mitzunehmen, den ganzen langen kurzen Flug. Natürlich nur am Telefon. Am besten über Skype. Oder Youtube. Damit die Gaffer auch auf ihre Kosten kämen. Aber nein, das betraf nur ihn und diese Personen waren nur zufällig seine Kinder. Was hatten sie schon damit zu tun, dass er da war, wo er war?

Natürlich alles!

Aber das spielte keine Rolle. Im Endeffekt hatte er das gemacht, was er gemacht hatte und sich nie anders entschieden. Möglicherweise aus diesem Zwang heraus, einen Grund zu finden. Weil die Kinder da waren, musste er arbeiten. Weil er auch noch die Schulden aus der Ehe übernahm und Unterhalt leisten musste, musste er noch mehr arbeiten. Weil die Kinder auf einmal hunderte von Kilometern entfernt waren, arbeitete er noch mehr und so weiter und so fort, der ganze typische „Ich seh da einen Zusammenhang“ Kram halt.

Dabei war es seine Entscheidung die Verantwortung zu übernehmen. Auch wenn ihn niemand, ausser er selbst, darum gebeten hatte. Naja, seine Frau oder sollte er Frauen sagen, ja, Frauen klang besser und war korrekter, hatten gefordert und gewollt. Ausser wenn sie mal nicht gewollt hatten. Meist wenn er wollte. Da kann man doch nicht wirklich davon reden, dass er gebeten wurde. Und dass die Kinder ihm die Schuld gaben, dass die Frau auf einmal hunderte von Kilometern zwischen ihn und die Kinder brachte, je nu, war ja klar. Wer sollte denn sonst Schuld sein? Die unangreifbare, unfehlbare Mutter etwa?

Wage es nicht uns die Schuld zu geben hiess es. Wie der Polizist, der ihn nicht durchlassen wollte, weil da eine Veranstaltung war. Und die Begründung, dass er aber dort wohnte, so sehr mochte, dass er ihm herzzerreissend die Scheisse aus dem Leib prügelte. Und dabei immer schrie: „Geben sie nicht mir die Schuld! Sie haben doch damit angefangen!“. Wenigsten hatte der Polizist nicht auch noch gedroht, sondern eher höflich gebeten. Auf seine Art. Mit Worten zumindest. Was konnte er schon dafür, dass seine Taten so anders ausfielen.

Dabei ging es ihm gar nicht darum, irgendjemandem die Schuld zu geben, sondern nur zu erklären, warum er im Bezug auf Weihnachtsgeschenke nicht in der Stimmung gewesen war. Nicht in der Lage war, viel zu schreiben oder gar anständige Geschenke zu liefern. In Sachen Erwartungen, da kannten seine Kinder kein Halten. Da waren sie Profis. Da waren sie in vertrautem Gelände. Das konnten sie.

Und alles nur, weil die Kinder sich beschwerten. Über die Geschenke. Natürlich. Und über ihre wiedermal enttäuschten Erwartungen. Allerdings hatten sie davon so viele, dass es eher schwer war, irgendwen irgendwie mal ausnahmsweise nicht zu enttäuschen.

Von allein hätte er mit diesem Thema gar nicht angefangen, das ihm dann um die Ohren gehauen wurde. Aber dieses selbstmitleidige, erwartungsenttäuschte „Das musste jetzt mal raus!“ hatte ihn zu einer Gegenreaktion getrieben. Auch bei ihm musste mal einiges raus.

Nicht das es seine Kinder interessierte, wie es ihm ging. Was da mal raus musste. Ausser es war lustig, fröhlich, unverbindlich. Sie hatten ja schon sein Testament als Angriff gewertet. Als ob es so unnormal wäre, in höherem Alter auch mal darüber nachzudenken, was wäre, wenn ihm irgendetwas zustossen würde. Insbesondere wenn man ständig unterwegs war. Auf die Dauer der Zeit steigt nun mal die Wahrscheinlichkeit für Unfälle.

Nein, jedes Anzeichen von Nichtfröhlichkeit war ein Affront. War ein Sturmangriff auf ihre Erwartungen, jetzt doch bitte bedient zu werden, jetzt doch bitte das zu bekommen, was sie sich wünschten. Es reichte doch wirklich, dass ihnen schon die Welt verweigerte, ihre Erwartungen zu erfüllen. Da war es doch nur recht und billig, dass wenigstens er ihre Erwartungen erfüllte.

Und bis zu einem gewissen Alter fand er das auch völlig okay. Schliesslich machte man das doch so. Den Kinder erzählen, dass alles nicht so schlimm ist, während man innerlich verreckt. Das alles wieder gut wird, während man nicht schlafen kann und nicht weiss, wie es weitergehen soll. Das macht man doch so.

Aber bei erwachsene Personen? Mit eigenen Kindern, die langsam in die Pubertät kommen? Er fragte sich immer noch, wann er diesen Vertrag mit Blut unterschrieben hatte? Ach nee, genau, es war kein Blut gewesen. Es war Sperma! Die Geheimtinte. Alles klar.

Hätte er sich ja eigentlich gleich denken können. Ha, denken, er war sich ja noch nicht mal sicher, ob er überhaupt denken konnte. Nachher denken, ging immer gut. Oh nein! Hätte ich doch nur! Wenn ich das gewusst hätte! Das funktionierte prima. Das mit dem vorher denken, das war das Problem.

Das Konzept einer Drohung schienen sie auch nicht verstanden zu haben. Oder er hatte es nicht verstanden. Wer weiss das schon. Sie hatten sich beschwert, er hatte versucht es zu erklären. Dummerweise keine fröhliche Sache. Dummerweise vermintes Gebiet. Aber eine Drohung? Wo hatte er verdammt noch mal damit gedroht? Er hatte erwähnt das es ihm schlecht ging, worauf ganze Engelschöre „Selbstmitleid, Selbstmitleid, Selbstmitleid“ anstimmten.

Er hatte erwähnt, dass er weiterkämpft. War das die Drohung? Sollte er endlich konsequent mit kämpfen aufhören? So hatte er das bis jetzt noch nie gesehen. Klar, seine Gegenwart, auch wenn weit entfernt, weiter ertragen zu müssen, Schuldgefühle zu haben, weil man keine Zeit und keine Lust hatte, sich um den Vater zu kümmern, logisch, wenn er dann weiterkämpfte, dann war das eine handfeste Drohung.

Das Gute war, dass sie damit seinen Trotz geweckt hatten. Sonst hätte er sie auf die Brücke mitgenommen. Doch wenn sie das mit aller Macht versuchten, ihn genau dahin zu bekommen, dann … dann erstmal nicht. Nicht mit mir. Und so erst recht nicht. Sein ganzes Leben hatte er sich dieser Welt abgetrotzt. Da kannte er sich aus. Da war er auf vertrautem Terrain.

Überrascht entdeckte er, dass er ein wandelnder Widerspruch war. Egal was jemand sagte, er fand ein Position die der geäusserten diametral gegenüber stand. Ich mag das nicht – ach es hat doch auch seine schönen Seiten. Ich mag das – naja, wo Licht ist, ist auch Schatten. So etwas in der Art. Aber auch das spielte jetzt keine Rolle mehr. Selbst am Trotz und Widerspruch hatte er mittlerweile den Spass verloren.

Kurz danach dachte er noch daran, seine Kinder zu enterben. Schrieb es auf. Zerriss es wieder. Was, in Gottes Namen, konnte er schon vererben? Da war nichts mehr von Wert. Und sein Leben? Keinen Pfifferling war es wert.

Wieso stand er jetzt eigentlich hier? Auf dem Fenstersims? Und fror? Und dachte? Dieses Danachdenken. Es wurde Zeit für einen Schlussstrich. Oft, wenn er glaubte, er könne nicht mehr, hatte er sich mit den Gedanken an seine Kinder getröstet. Halt gefunden. Einen Grund. Einen beschissenen, verdammten, idealisierten Grund.

Worte, ja, Gelaber ja, da waren seine Kinder Meister, wie er selbst. Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm. Klar doch, du bist immer willkommen. Und so. Reine Lippenbekenntnisse. Als er zufällig noch dachte, weil er in der Nähe war, sich bei einem seiner Kinder zu melden, wäre eine tolle Idee, kam nur ein vorwurfsvolles „Was willst du denn hier?“. Er hatte sich aus dem Staub gemacht, bevor noch mehr dieser liebevollen Wörter sein Ohr erreichen konnte.

Einen Abschluss, er musste einen Abschluss finden. Die Sache ging schon viel zu lange und, um es mit Marvin zu sagen, er hatte immer noch diese schrecklichen Schmerzen in der linken Diode.

Deswegen war er hier. Um das alles hinter sich zu lassen. Um dem Trotz zu trotzen. Der ultimative Trotz sozusagen. Wie sollte er sich noch mit Kindern trösten, die einen alten kaputten Mann eher in den Tod trieben als ihm vielleicht mal zu sagen, ist alles nicht so schlimm? Wird schon wieder. Sie waren ja schliesslich nicht seine Eltern. Der Job war nur für die eigenen Kinder bestimmt.

Nein, in solchen Kindern konnte er keinen Trost mehr finden und für alles andere war es nun auch zu spät. Es ist ja nicht so, dass das Alter mit Lebenskraft und Gesundheit einhergeht. Eher entzieht das Alter dir genau diese Sachen.

Genug gedacht, in einem anderen Leben würde er ihnen vielleicht verzeihen können, aber vergessen? Nein, vergessen würde er nie. Ausser er sprang jetzt endlich. Wenn nicht, würde er noch zum Ritter von der traurigen Gestalt. Und Aufmerksamkeit erregen. Doch an dieser Sorte Aufmerksamkeit lag ihm nichts. Die andere Sorte jedoch gab es nicht. Nicht für ihn … also sprang er.

Noch im Fall kam ihm der Gedanke, habe ich da nicht etwas vergessen. Doch, zu spät. Er fiel und die Zeit dehnte sich ins Unermessliche. So ein Schmarrn, dachte er, dass sich das Leben nochmal vor einem abspult, wenn es soweit ist. Alles nur Blödsinn made in Hollywood. Entweder denkt man „Scheisse, ich falle, ich ertrinke, ich … irgendwas“ oder man denkt „War da nicht noch was?“. Und dann ist es schon rum.

Weich landete er auf dem Rasen vor dem Fenstersims. Des Fensters im Erdgeschoss. Die Nachbarn schauten immer noch etwas komisch. Aber er war glücklich. Er hatte es einfach tun müssen. Diesen symbolischen Sprung in ein neues Leben. Das alte hatte er hinter sich gelassen. Es war ihm egal. Es war Geschichte.

Das neue Leben hatte eben erst begonnen!

(Zu Marvin und Hot Black Desiato befrage man den „Anhalter durch die Galaxis“ – ein Buch, auf dem mit freundlichen Worten KEINE PANIK steht.)

Der gute Kannibale

Eine Parabel über Gut, Böse und jedwede Moral …

Einst, lang ist es her, lebte ein fröhliches Volk jenseits der Berge. Ihr wisst schon, jene Berge, die niemand zu erklimmen wagte. Jene Berge, die in einem gewissen Ruf standen …

Und eigentlich waren jene, hinter den Bergen, doch vor den sieben Zwergen, gar nicht so besonders, so anders. Ausser das sie hinter den Bergen lebten.

Und das sie gern Menschenfleisch verzehrten.

Jener, der einen Bewohner eines anderen Dorfes erbeutete, genoss hohes Ansehen. Ja, es gab da mehrere Dörfer und natürlich, da sie ja hinter den Bergen lebten, waren sie alle mehr oder weniger vom gleichen Schlag …

Säuberlich reihte man die Knochen der Beute auf. Nun ja, sagen wir, was davon übrig blieb. Was nicht zu Nadeln, Löffeln, Marksuppe oder sonst wie verwendet oder verkocht wurde. Okay, eigentlich blieben meist nur die Zähne übrig. Meist.

Aber das ist ein anderes Thema und eine andere Geschichte.

In diesem Stamm gab es einen Jüngling. Wie immer. Es gibt doch immer einen Jüngling? Vielleicht auch noch eine Jungfrau? Gern, natürlich war er in sie verliebt, oder? Fragen wir Disney? Jetzt? Schon jetzt? Nie im Leben! Er hasste sie! Es war unmöglich das sie je zusammen kämen. Naja, vielleicht liebte er sie ja auch, wer weiss schon so genau, wo Hass aufhört und Liebe anfängt, oder umgekehrt. Wie’s beliebt. Schnell noch einen Zoom auf das Gesicht des Jünglings.

Ebenholz. Hart. Und doch weich.

Ach lassen wir das, ist doch eh nur Emotionstheater. Aber man heult jedesmal, oder? Ehrlich …

Egal, der Jüngling, machte sich so seine Gedanken. Die verhasste geliebte Jungfrau, das Ansehen im Stamm, die schlimme Verpflichtung der Sohn des Häuptlings zu sein … dieses spezielle „ich bin was Besonderes und zwar von Geburt – nichts was du je erreichen könntest“, wann hätte es je in Hollywood gefehlt?

Das wirklich Blöde war, dass dieser Jüngling, nennen wir ihn einfach mal Fichte, dass also Fichte wirklich, wirklich, wirklich gut sein wollte. So wie es die Stammesregeln seit alter Zeit bestimmten. Seit der Zeit, genau genommen, seit der man über die Berge geflohen war und auf einmal mit vielen Menschen, aber wenig Nahrung konfrontiert war, aber auch das ist eine andere Geschichte …

Wo war ich? Ach ja, der junge Fichte, Er wollte einer der Besten werden. Er wollte die Regeln so erfüllen, wie sie gemeint waren. Er wollte einfach allen ein leuchtendes Vorbild seines Stammes werden.

Und natürlich hoffte er heimlich, aber das durfte er niemandem verraten, damit das Herz seiner vielgehassten geliebten Jungfrau zu erringen. Auf das sie alte Frauen und Männer würden? Nein, halt! Da macht Disney nicht mit und ich auch nicht. Ein Jüngling denkt doch nicht über seine Endlichkeit nach. Über gemeinsames Verwelken … oh nein … im Geiste ist das schön romantisch … forever young oder so.

Gut, er dachte also nicht daran. Sondern eher daran, wie er jetzt jene beeindrucken könnte, die er eigentlich nur deshalb haben wollte, weil sie ihn so sehr verachtete. Aber mal ehrlich, wer würde einem das abnehmen?

Und, egal wie man es drehte oder wendete, es war alles eine Frage von Gut und Böse. Böse waren natürlich jene hinter den Bergen. Wer denn sonst? Jene, die man mied wie die Pest.

Man selbst gehörte zu den Guten. Wie nicht? Selbst die Dörfer in der Umgebung, die man immer wieder überfiel, waren noch besser als dieser Abschaum hinter den Bergen. Schauergeschichten machten die Runde. Ein dunkler Schatten breitete sich aus, wenn die Berge im Zwielicht näher rückten. Fast greifbar schienen.

Ach, ich Tolpatsch, jetzt habe ich doch glatt vergessen, von dem anderen Jüngling zu erzählen. Der hinter den Bergen. Also aus der Sicht von Fichte. Aus der Sicht dieses Jünglings, wie sollen wir ihn nennen? Hegel vielleicht. Vielleicht hiess er auch anders, egal, aus Hegels Sicht war natürlich Fichte hinter den Bergen.

Wie das Leben aber auch manchmal so spielt? Hegels Geschichte ist eigentlich nicht so viel anders. Er liebte seine Jungfrau vielleicht mehr und hasste weniger. Aber wer weiss, vielleicht war es umgekehrt oder auch ganz anders. Wie auch immer, Hegel wie Fichte, sie wussten, sie würden Bedeutendes vollbringen.

Ja, klar, vollbringen müssen. Muss es natürlich richtig heissen. Erfolgsdruck. Immer. Egal wo. Einfaches Leben? Viel Spass mit Termiten. Keine Frau? Viel Spass bei der Arbeitssuche … äh, wo war ich, ach richtig. Diese jungen Bengels.

Ihr könnt euch nicht ausmalen, was die beiden sich ausgedacht hatten. Oder? Ach Mist, ihr könnt es, zu viele Filme gesehen. Mannomann.

Okay, ihr bekommt es trotzdem, ihr habt es so gewollt. Na? Klar … so klar wie Klossbrühe … also ich frage mich ja immer, ob der, der diesen Spruch zuerst gemacht hat, je ne Klossbrühe gesehen hat, wie auch immer … sie machten sich also bereit für eine grosse Wanderung.

Ha, habt ihr jetzt gedacht, für den Marsch hinter die Berge? Ein paar Tricks habe ich schon noch drauf. Gut, egal.

Als sie also bereit waren, wir überspringen jetzt einfach den lyrischen Teil mit der tollen Beschreibung wie sie sich gekleidet haben, wie sie aussahen, dieses ganze Geflenne und Getue, echt jetzt, schaut euch nen Disney-Film an, wenn ihr das haben wollt. Die können das. Ja was glotzte jetzt so. Klar können die das.

Die beiden also auf ihrem Weg. Dem Weg, den noch niemand gegangen ist. Zumindest hatten sie den Vorteil, das niemand sich konkret daran erinnerte. War es doch so bequem … vor den Bergen. So kuschelig. Es passte schon alles irgendwie. Klar, der Müll wurde immer mehr. Aber aus den Ratten konnte man echt gute Burger machen.

Eine weitere erstaunliche Koinzidenz. Ratten-Burger waren hinter den Bergen und hinter den Bergen beliebt. Ihr versteht?

Nun, natürlich kommt jetzt ne umständliche Beschreibung wie die Jungs sich so lange um die Berge rum mogelten, bis sie dann, bei der Überquerung, nicht auf einander trafen. Sagte ich nicht? Ja, verdammt noch mal.

Sie liefen voll aneinander vorbei. Das mag man sich gar nicht ausdenken, sowas!

Um es kurz zu machen, diese Geschichte geht ja eh schon viel zu lang … nicht? Selbst Schuld sag ich nur.

Okay, Hegel kommt jetzt bei den Menschenfressern vorbei. Oder ist Kannibale angenehmer im Klang? Das Ohr isst mit? Wie man so schön sagt. Naja, er kommt da vorbei, ihr wisst ja, ich mag den romantischen Quatsch irgendwie nicht so, ja, da hat er tolle Abenteuer, ist voll der Held, dem Fichte geht es übrigens nicht anders, halt nur hinter den Bergen, sozusagen …

Also Hegel schleppt die Alte von Fichte ab und umgekehrt. Keiner hat auch nur nen blassen Schimmer. Okay, war jetzt die sehr saloppe Form, zumal die Jungfrauen ja noch gar nicht so alt sind. Wer weiss auch wie alt sie werden?

Ah … höre ich da ein leises Raunen. Schau mer mal …

Sie kommen also voll stolz mit ihrer Beute heim und was denkt ihr? Klar! Alles in Aufregung! Panik pur. Hegel hat ne neue Liebste und Fichte hat ein neues Essen aber keine Braut mehr. Was ein Theater sag ich euch.

Aber das Beste kommt noch. Jeder von ihnen war voll der Gute. In seinem Stamm. Die Beute-Jungfrau von Fichte war sozusagen in aller Munde, wie auch die Beute-Jungfrau von Hegel. Gut da in einem anderen Sinne.

Und eigentlich begannen die wirklichen Probleme erst dann, als Hegels Jungfrau einen Menschen zum Essen begehrte. Aber das ist eine andere Geschichte.

Und ihr wisst ja, jedes Wort ist gelogen aber alles ist wahr. So wahr mir Gott helfe oder wer auch immer gerade Zeit hat.

Zeit? Habe ich euch schon die Geschichte von der Zeit erzählt …

Ach nee, das ist ja jetzt blöd, der Titel passt ja gar nicht mehr. Wie habe ich den Fichte nur so verkommen lassen. Nehmt es locker, Fichte war doch klar der gute Kannibale, wer trauert schon darum, dass der gute Andere, wie hiess er noch, Hegel ein bisschen mehr Licht abbekommen hat?

Schlaft gut … 😉

Muss ein Philosoph verrückt sein?

Eine leichte Frage, die man ohne zu zögern mit einem eindeutigen Ja beantworten kann, flüstert mir meine Hybris ins Ohr.

Ich werde euch auch sagen warum, flüstert sie weiter.

Verrückt ist nicht dasselbe wie irre oder wahnsinnig. Wie die Wörter in ihrer Bedeutung schon aussagen, kommt irre oder Irrsinn klar von irren, insbesondere sich selbst. Wahnsinn erläutert sich auf die gleiche Weise, man hängt einer wahnhaften Idee an, ist fixiert auf diese.

Dagegen ist verrückt, wenn man es richtig liest – ver-rückt – erst einmal eine wertfreie Feststellung, die einfach eine Aussage über den gedanklichen Standort einer Person im Verhältnis zur Gesellschaft macht. Wer aus den normalen Denkschemata herausfällt, sozusagen in seiner Position verrückt wurde, hat einfach eine andere Perspektive auf die Dinge. Ob diese Sichtweise richtig ist, sei dahingestellt, denn auch wenn sich eine Mehrheit einig ist, so bedeutet dies doch nicht, dass ihre Perspektive richtig ist.

Wobei wir noch einen Schritt weiter gehen müssen. Denn richtig und falsch sind tückische Begriffe. Was dem einen in dem entsprechenden Zeitalter als richtig erschienen ist, erschien dem anderen in einem anderen Zeitalter falsch. Richtig und falsch kann man zwar versuchen, auf das Individuum abzustellen, und behaupten, alles war solange richtig, solange das Individuum durch die Folgen seines Handels nicht zu Tode gekommen ist. Doch hier mag jemand mit der Perspektive Gattung gut und gern behaupten, dass dem nicht so wäre. Denn wenn das Handeln eines Einzelnen den Bestand der Gattung gefährdet, dann kann dies kaum richtig sein. Und wie wir schon erkennen können, liegt die Crux in der letzten Behauptung darin, dass für eine solche Beurteilung Zeiträume vergangen sein müssen, die unser Lebensalter überschreiten.

Soviel in Kurzfassung zum Thema richtige Perspektive. Es gibt keine. Temporär kann eine Perspektive gewinnbringender sein, für das Individuum, für die Gesellschaft, für die Umwelt, für was auch immer, langfristig wird es nie DIE EINE richtige Perspektive geben. Ich wage sogar zu behaupten, dass mit der Vielzahl der Perspektiven eine bessere, aber nicht vollständige und erst recht nicht richtige Wahrnehmung der Welt möglich sein kann.

Zurück zum Thema, warum sollte gerade die Andersartigkeit der Perspektive ein MUSS sein? Für einen Philosophen?

Nun, ich stelle mich rotzfrech hin und behaupte, hätte ein Philosoph die gleiche Perspektive wie die Mehrheit, ohne alternative Sichtweise, die ihn aus den Mehrheitsperspektiven isoliert (seien wir ehrlich, die Mehrheit hat nicht nur eine Sichtweise, aber es gibt kulturelle Abmachungen, die bestimmte Perspektiven als vorherrschend kennzeichnen – um nur ein paar Perspektivdissonanzen aufzuzeigen, haue ich einfach mal die Schlagwörter 9/11, Kollateralschaden, friedenssichernde Massnahmen, Impfpflicht, Massentierhaltung … in die Runde), ihn oder sie oder es quasi ver-rückt macht, so hätte er keinen Grund, überhaupt über die gängigen Perspektiven nachzudenken. Noch nicht einmal, sie anzuzweifeln.

Denn was so euphemistisch als Liebe zur Weisheit daherkommt, ist doch letztendlich nur die Unfähigkeit oder der Unwillen zur Machtergreifung.

Hoppala, wird jetzt vielleicht der ein oder andere anmerken, dass war jetzt aber ein weiter Sprung. Und ich werde darauf antworten, ja, das war er.

Um das zu erläutern, hole ich noch etwas aus. Ich behaupte nicht nur, dass Philosophen verrückt sind, sondern auch alle, die erfolgreich die Macht an sich reissen oder es überhaupt versuchen. Seien es Könige, Despoten, Händler, Unternehmen, wer auch immer. Allen ist gemein, dass sie eine andere Perspektive, eine andere Sichtweise, etwas erkennen lässt, dass den anderen augenscheinlich verborgen bleibt. Und das sie versuchen, mehr oder weniger erfolgreich, diese neue Sichtweise zu ihrem Vorteil auszunutzen und somit auch nur den animalischen Trieben frönen, die da heissen: Ich wär so gern ein Alphatier!

Nehme ich also an, dass meine abenteuerlichen Behauptungen auch nur halbwegs stimmen würden, dann kann daraus nur geschlossen werden, dass Philosophen aufgrund ihrer Verrücktheit die Möglichkeit zur Machtergreifung hätten (ich glaube, es gab mal einen, der das demonstriert hat, in wirtschaftlicher Hinsicht, man frage Precht zu den Details – und nein, es war nicht Locke, wenn man den moralischen Begriff verwenden mag, kann man ihn zu den gefallen Philosophen zählen, zu denen, die einen Glauben etabliert haben), sie aber (möglicherweise bewusst) nicht nutzen. Ob es sich jeweils um Unfähigkeit, Unwillen oder ein Mischung aus beiden handelt, möge jeder Philosoph mit sich selbst ausmachen.

Letztendlich ist ja die Ratsherrenposition und nirgendwo anders ist die Philosophie zu verorten, mit all ihren idealen Staaten und Gedanken, wie man es besser und effektiver machen kann, die weitaus ungefährlichere Position, als die des Alphatierchens. Der Hauptzorn gilt dem Alphatier, wenn etwas schief geht, nicht dem Einflüsterer, sofern das Alphatier nicht schlau genug ist, den Einflüsterer als Schild zu benutzen und der Einflüsterer dumm genug, dies mit sich machen zu lassen. Selbst die Naturwissenschaften, Abkömmlinge der Philosophie, dienen hier im Wesentlichen nur als Maschinen zur Generierung neuer Perspektiven für die Mächtigen oder die, die es werden wollen. Da sie sich derzeit nicht direkt in der politischen Schusslinie befinden, im Moment noch die cleverste Position, aus evolutionärer Sicht gesehen.

Doch, wie die Geschichte bisher zeigt, fehlt es im grossen und ganzen an moralischer Verantwortung gegenüber der eigenen Gattung, was Erfindungen respektive neue Sichtweisen betrifft. Obwohl das geschichtliche Wissen mehr als nahelegt, dass jede Erfindung primär zu militärischen Zwecken eingesetzt wird, bzw. das Militär das erste ist, welches die militärische Eignung prüft, stellte sich zu keiner Zeit ein Umdenken ein. Was ob der kriegerischen Natur des Menschen auch nicht zu erwarten ist.

Und auch das gehört dazu, ver-rückt zu sein. Nicht zu erkennen, welche Folgen die eigene Perspektiven auf andere Menschen oder einen selber haben wird. Ob wir jetzt Aristoteles, Sokrates, die Sagengestalt Jesus, Newton, Einstein oder wen auch immer nehmen. Erkenntnis kommt nun mal danach. In einem Universum, in dem die Zeit nur in eine Richtung fliesst und die Lebenserwartung begrenzt ist, ist so etwas zwangsläufig. Und andere Sichtweisen führen zu anderen Schlussfolgerungen, insbesondere, da der Mensch ja nur von sich selbst auf andere schliesst, bzw. nur schliessen kann. Was oft schon fatale Folgen gehabt hat.

So, Schluss mit den Verrücktheiten. Legen wir das verrückte Thema als kleinen Denkanstoss an die Philosophie beiseite.

Ich selbst würde ja nicht soweit gehen, mich als Philosophen zu bezeichnen. Ich denke einfach nur verquere Gedanken und bin möglicherweise ziemlich verrückt. 😉

Zu guter Letzt, wie immer, dass war alles nur eine Gute-Nacht-Geschichte. Kein Wort davon stimmt und jedes Wort ist wahr. Wie sollte es auch anders sein?

 

Der unbewegte Beweger – eine Gute-Nacht-Geschichte

Es war einmal … fangen nicht alle Geschichten so an? Seien wir tollkühn und behaupten, es war vielleicht einmal ein kleiner Junge namens Jonah.

„Mama?!“
„Ja, mein Sohn?“
„Mama, ich … ich … Mama, die anderen Jungs … Mama … ich … ich will auch so einen Universum-Baukasten … ich … wie … die anderen haben … das … doch auch, Mama?“

Weder Jonah noch seine Mutter konnten seinerzeit ahnen, aber ist das nicht immer so, dass es nachher heisst „Wer hätte das denn ahnen können?“, nun, beide hatten nicht den blassesten Schimmer, welch Aufruhr dieser Dialog zwischen einer Mutter und einem knapp 6-jährigen Kind noch auslösen würde.

Jonah bettelte schon seit Tagen. Alle in seiner Spielgruppe hatten so ein Ding, so einen Universum-Baukasten. Und alle waren begeistert, obwohl noch niemand ein Universum hervorgebracht hatte, das länger als einen Tag hielt. Aber es war DER Renner diesen Sommer. Und, wie es nun mal so ist, wurden alle schief angeschaut, die noch immer keinen Universum-Baukasten hatten. So auch Jonah.

Was Jonah überhaupt nicht gefiel. Hätte er gewusst oder auch nur erfahren, wieviele Verehrer er einst haben würde, wäre vielleicht überhaupt nichts passiert. Denn wie alle wissen, ist jede geträumte Zukunft eine Zukunft, die mit höchstwahrscheinlicher Sicherheit nicht passieren wird.

Zumindest nicht so!

Und jede Zukunft, die einem bekannt werden würde, ist eine Unmöglichkeit. Nicht, dass sie nicht hätte passieren können, doch das Wissen auch nur eines einzelnen Wesens um eine solche Zukunft, würde genau eine solche Zukunft verhindern. Zukunft und Anti-Zukunft für die Gebildeten unter uns.

Aber halten wir uns nicht mir Trivialwissen auf. Zurück zu Jonah.

„Mama?!“
„Ja, mein Sohn?“
„Mama! Also … ich … also … ich … ich … ich würde … auch ganz, ganz vorsichtig sein. Ich … ich … mach es … ich mach es bestimmt nicht … kaputt. Ehrlich!“

Taktisch war das kein kluger Zug von Jonah. Denn was er auch anfasste, meist war es nachher kaputt oder nicht mehr in dem Zustand, in dem es ihm übergeben wurde.

Was genau genommen nicht Jonahs Problem und erst recht nicht seine Absicht war. Jonah hatte lediglich ein Talent für die Entdeckung unvollkommener Sachen. Mit traumwandlerischer Sicherheit erfasste seine erste Aktion genau den Schwachpunkt eines Systems.

Ob er jetzt seine Hose oder seine Schuhe genau an den Stellen strapazierte, an denen sie am wenigsten geeignet dafür waren oder ob er auf seinem Rechner genau jene Kombination von Aktionen auslöste, die einen sicheren und totalen Absturz auslösten, nichts war vor ihm sicher.

Und nichts hielt länger als die paar Sekunden nach dem Erstkontakt.

Ausser …

Ausser seinem Fussball. Ein archaisches rundes Gebilde, mit Luft aufgepumpt, bestehend aus sechseckigen Flicken, die zusammengenäht waren.

Er liebte es, diesen Gegenstand durch die reale Welt zu „kicken“, wie er es nannte. Dabei waren die wenigsten noch mehr als ein bis zwei Stunden in der realen Welt. Was wollte man von einer realen Welt, wenn man in der virtuellen Welt ein Gott sein konnte. Und alles genauso erledigen konnte, aber die virtuelle Welt eine viel schönere Geschichte enthielt, als in dieser leidigen realen Welt.

Welch Pech, dass man noch an einen physikalischen Körper gebunden war!

Jonah dagegen verabscheute diese Welt der Gaukelei. Die es dem Sinnesorgan erleichterte, die passende Selbsttäuschung zu wählen und friedlich grasend in der Herde mitzuziehen. Fröhlich muhend und beglückt.

Weswegen es auch viele seiner Artgenossen irritierte, dass Jonah immer wieder völlig unerklärliche Wutausbrüche hatte. Zumindest unerklärlich für jene, die in ihrer Filterblase einen gemütlichen und stressfreien Rückzugsort entdeckt hatten. Und das war nun mal die Mehrheit.

Seiner Strategie, sich mit der realen Welt zu konfrontieren, wurde zwar viel Verständnis und Toleranz entgegengebracht, aber ehrlich gesagt, war jeder froh, wenn Jonah nicht da war. Selbst seine Eltern waren oft an dem Punkt, an dem sie fast gern froh gewesen wären, wenn er nicht da war.

Das Problem war natürlich, wenn Jonah nicht da war, wussten die Eltern nicht, welche Schreckensnachricht sie erwarten würde, wenn Jonah wieder da wäre. Also blieb es bei fast gern froh gewesen zu sein.

Dabei war Jonah zu keinem Zeitpunkt darauf aus, irgendjemanden ein Leid zuzufügen. Ganz im Gegenteil. Es dauerte ihn nicht nur, es ärgerte ihn ungemein, wenn jemandem ein Leid zugefügt wurde. Wenn jemand ungerecht behandelt wurde. Genau dies war ja ein grosser Teil seiner Wut, seines Zorns und seiner, für die Umwelt unerklärlichen, emotionalen Ausbrüche.

Und wenn Jonah es ihnen mit den klugen Worten eines Nichtwissenden und Allessehenden erklärte, verstand niemand auch nur ein Wort davon. Fairerweise müssen wir natürlich hinzufügen, das Gerechtigkeit und Leid gemäss Jonahs Definition zu sehen waren. Eine Definition, die, wenn wir es genau nehmen, nur Jonah bekannt war. Und es bestehen berechtigte Zweifel, dass diese Definition auch nur ansatzweise objektiv war (ihr braucht jetzt da hinten nicht rumzubrüllen, auch ich weiss, dass Objektivität ein Mythos ist, aber das Bemühen um die Annäherung an die Objektivität ist kein Mythos, wie ihr selbst wisst, ihr selbstgerechten Subjektivisten!).

Wie dem auch sei, es verging kein Tag, an dem nicht Jonah bettelnd an der Rockschössen seiner Mutter gehangen hätte.

Ein Universum-Baukasten!

EIN UNIVERSUM-BAUKASTEN!

Wie viele sich vielleicht noch erinnern mögen, Geschichte, Gewalt und alles was dazugehört, so ist Folter erst dann grausam und zugleich effektiv, wenn sie über Zeit und zurückhaltend angewandt wird. Sicher, mancher mag einwenden, dass Jonahs Art in keinster Weise zurückhaltend war. Doch ihnen sei gesagt, seine Mutter kannte ihn besser. Und auch in ihren Augen war dieses Verhalten eher zurückhaltend.

Denn jene, die Jonah kannten, wussten, wenn er wirklich wütend war, dann machte er vor nichts mehr halt. Es war ihm vollkommen egal ob er sich oder irgendjemanden anderes physisch verletzte. Nur Eingeweihte wissen von seiner Phase, in der er versuchte, seinen eigenen Kopf am Boden zu zertrümmern. Oder jener Phase, in der er nicht wusste, gegen wen er das Messer in seiner Hand als erstes richten sollte.

Gegen sich oder gegen den Anderen?

Im Zweifelsfall kann man natürlich bei Jonah sagen, gab es eher eine Reihenfolge. Erst die anderen, dann ich. Aber auch nur, nachdem die Reihenfolge „Erst ich, dann die anderen“, respektive der Versuch, sich den Kopf zu Brei zu schlagen, nicht nur grandios fehlgeschlagen war, sondern zudem mit einem übergrossen Mass an Schmerzen geendet hatte, den nicht die anderen, sondern nur Jonah selbst hatte.

Und alles was seine Mutter immer wieder sagte, und es hätte nicht richtiger sein können, war:

„Komm, lass uns ne Runde Fussball spielen.“

Nun ja, genau genommen, sagte sie es zwar, aber Vater war definitiv der bessere Fussballer. Und so blieb es meist, zu seinem eigenen Vergnügen, an ihm hängen. Was allerdings wenig daran ändert, dass beharrliche Folter irgendwann ihre Wirkung zeigt.

„Schaatz, meinst du nicht, wir sollten ihm so einen Universum-Baukasten zum nächsten Geburtstag schenken?“
„Meine geliebte Frau, sicher können wir ihm so etwas schenken. Aber bedenke doch, man hat nur drei Versuche. Stell dir einfach einmal vor, alle drei Versuche schlügen fehl. Der Baukasten ist ja nicht gerade billig. Und dass dieser Baukasten danach zertrümmert in der Ecke liegen würde, ist sicher unser kleinstes Problem. Aber wieviel Baukästen müssen wir ihm kaufen?“
„Ich weiss genau was du meinst. Schlimmer geht immer, wie mein Vater zu sagen pflegte. Und in diesem Fall ist bei Misserfolg definitiv von SCHLIMMER auszugehen. Aber besser wird es leider auch nicht. Ich bin schon jetzt mit meinen Nerven am Ende. Ich zittere beim Aufwachen schon und fürchte mich vor der nächsten Baukasten-Frage.“

Wie das ständige Betteln und Nerven seitens Jonah, so wurde auch diese Gespräch bald zur Routine. Bis zu jenem verhängnisvollen Tag.

Natürlich gab es niemanden in vergleichbarem Alter und vergleichbarer physischer Ausstattung, der Jonah auch nur im entferntesten Konkurrenz auf dem Gebiet Fussball hätte machen können. Es gab noch eine Folkloregruppe, die diesen ominösen Sport ausübte und es war klar wie Klossbrühe, dass Jonah nicht nur Teil dieser Gruppe war, sondern begann, ob seiner Fähigkeiten, diese Gruppe zu dominieren.

Je besser die Menschen ihn kennenlernten, desto mehr Respekt hatten sie vor seinen Fähigkeiten. Ehrlich gesagt waren das eher wenige. Die meisten waren einfach nur neidisch. Und das galt sogar für seine Freunde. Ähem, seien wir genau, so viele Freunde, war es nicht. Es war eher ein Freund. Oder auch nur Spielkamerad. Einer der besser als andere mit Jonahs Art umgehen konnte. Bis zu diesem verhängnisvollen Tag.

Wie es so oft der Fall ist, bricht die Freundschaft meist an dem Punkt, an dem sie eigentlich beginnen sollte. Jonah und sein Freund waren da keine Ausnahme. Auch er war in dieser Folkloregruppe. Auch er war nicht schlecht. Aber eben nicht so gut wie Jonah. Was untereinander überhaupt kein Problem war. Aber es hatte einfach eine andere Qualität, von jemandem auf diesen Umstand hingewiesen zu werden, den man eigentlich nur ansatzweise kannte.

Es brachte einem radikal zu Bewusstsein, wo man eigentlich stand, egal, wie gern man sich irgendwo anders gesehen hätte. Und das war einfach zu viel. Nicht für Jonah, nein. Nur für seinen Freund.

Wäre Jonah älter gewesen, hätte er bereits früher erkannt, dass etwas nicht mehr stimmte. Aber so? Wie sollte er? Da war so ein Gefühl. Wie ein kleiner nervender aber nicht wirklich gegenwärtiger Schmerz. Irgendetwas stimmte nicht. Aber wer mochte schon sagen, was es tatsächlich war, dass da nicht stimmte. Man war ja manchmal einfach nur nicht so gut drauf. Und Jonah kannte das Bestens. Folglich hatte er auch weniger Probleme damit, als es andere gehabt hätten. Genau deswegen schätze er die Situation so falsch ein. Und genau deswegen war alles, was an diesem verhängnisvollen Tag geschah, einfach nur ein Überreaktion auf die Enttäuschung, eine solche Fehleinschätzung begangen zu haben.

Begonnen hatte dieser verhängnisvolle Tag eigentlich wie jeder andere. Weder besonders gut, noch besonders schlecht. Ein Umzug war geplant. Laternen waren gebastelt worden und eine fiebrige Erwartung erfüllte die Luft, als der Abend und der Umzug immer näher und näher kamen (Jetzt mal Ruhe da hinten, sicher war der Tag bis zum Abend eher wenig verhängnisvoll, aber ist das wirklich wichtig?).

Jonah und sein Freund liefen fröhlich, zumindest schien es Jonah so, im Umzug mit und schwenkten ihre Laternen. Jonah dachte sich nichts dabei, dass sein Freund ihn immer wieder anrempelte. Es war ja wirklich eng, mit diesen vielen Leuten. Da konnte so etwas leicht passieren.

Als sein Freund anfing, Jonah in die Schulter und den Bauch zu boxen, wurde die Sache langsam komisch.

„Hey, lass das!“
„Waaas?“
„Das Boxen und so …“
„Waaarum?“
„Es gefällt mir nicht …“
„Du bist ein Weichei!“
„???“
„Ein Feigling, ein Looser, du hast ja noch nicht mal einen Universum-Baukasten!“

Jonah hätte sich durchaus als tolerant und weltoffen bezeichnet, eine Meinung, die wenige Zeitgenossen mit ihm teilten, aber das war nun wirklich zu viel. Insbesondere als sein Freund sein neuestes Universum aus der Tasche zog und es provokativ vor Jonahs Augen baumeln liess.

„Haha, Loooooser, du bekommst nie ein Universum. NIE, NIE, NIE! Haha, ellebätsch!“

Die wenigsten unserer Zeitgenossen hätten behauptet, dass Jonah mit Geduld gesegnet war. Die meisten hätten Stein und Bein geschworen, dass das Gegenteil der Fall war. Und auch wenn es für viele nach einer völlig spontanen Reaktion aussah, so sei doch angemerkt, dass Jonah für Mikrosekunden in tiefstem Hader und Widerstreit gefangen war. Bis sich … nun ja … wie soll man das schonend einem unwissenden Publikum beibringen … nun ja, bis sich seine Faust im Gesicht seines Freundes befand. Und das war der weniger schlimme Teil. Es kostete den Freund einen Zahn, aber wer wird bei Milchzähnen schon kleinlich sein.

Der schlimme Teil war der, den keiner so richtig mitbekam. Wie ich bereits erwähnte, besass Jonah einige Fähigkeiten, manche mögen es Akrobatik nennen, was den Umgang mit Lederbällen und Füssen im Zusammenspiel betrifft. Die Faust war letztendlich nur ein Ablenkungsmanöver, das besser funktionierte, als erwartet. Zur bleibenden Verblüffung von Jonah. Sein eigentliches Ziel war das Universum. Wie es da herrlich in der Masseneffektorkugel schimmerte, die sein Freund baumelnd an einer Kette hielt.

Und tatsächlich war es noch nicht einmal ein richtiges Universum. Es war nur ein diffuses blinkendes Leuchten aus der Mitte der Masseneffektorkugel. Eigentlich, wenn man es genau nahm, hatte Jonahs Freund das Experiment schon versaut. Es würde nichts mehr werden und nach einem Tag wäre es jedem offensichtlich.

Wie ich ebenfalls erwähnte, hatte Jonah ein „Händchen“ für die richtige Schwachstelle. Wer noch nie gesehen hat, was ein freigelassenes Masseneffektorfeld anrichten kann, der möge hoffen, dass er es auch niemals je zu Gesicht bekommen möge (und ihr da hinten seid jetzt mal ganz ruhig, auch ich weiss, dass wir überall Eindämmungsfelder haben, sonst würden wir unsere Kinder ja nicht mit Universen herumlaufen lassen, die die Sprengkraft jeder denkbaren Waffe um ein Vielfaches übertreffen, also hört zu, statt ständig zu unterbrechen).

Das Problem bestand darin, dass die Eindämmungsfelder nicht für eine solche Situation geschaffen waren. Eine Masseneffektorkugel, durch einen Tritt nicht nur extrem beschleunigt, nein auch noch, als ob das nicht schon genug wäre, instabil. Kurz vor der massiven Inflation, die die Deflation einleitet.

Und hätten die Eindämmungsfelder nicht genau in diesem Moment reagiert, zu spät, aber immerhin nicht völlig zu spät, dann könnte ich euch diese Geschichte nicht hier und nicht heute erzählen. Denn ich war dabei.

Die Kugel barst auseinander, Tim und sein Freund, wie auch viele in ihrer Umgebung, mich eingeschlossen, wurden weggeschleudert und durch Traumaeindämmungfelder gerettet. Und für einen Bruchteil einer Mikrosekunde entfaltete sich eine neues Universum. Frei. Ohne Grenzen. In einer rasanten Geschwindigkeit. Das breiige undefinierte Wabern zog sich zuerst in sich zusammen um dann in klumpiger Qualität auseinander zu brechen. Und sich auszubreiten.

Glücklicherweise griffen in diesem Moment die Eindämmungsfelder.  So weit, so gut. Das Universum war ein bisschen grösser geworden als üblich. Ein mit sich Herumtragen war quasi ausgeschlossen, wenn man nicht mindestens zehn Meter hoch war. Aber dank der Natur der Eindämmungsfelder konnte die Galaxie sich im Inneren nun weiter unendlich ausbreiten, ohne im Äusseren je mehr Raum einzunehmen, als die Eindämmungsfelder gestatteten.

So weit, so wenig verwunderlich, werdet ihr jetzt rufen. Ja, auch ihr da hinten. Sicher, was ist da so Besonderes daran, werdet ihr fragen? Und ich werde euch antworten. Nichts, werde ich sagen. Nichts, ausser, dass wir einen Gott geboren haben.

Aha, ich sehe euch stutzen? Das hättet ihr nicht erwartet? Sagt selbst, wart ihr schon jemals in diesem kleinen, unscheinbaren Jonah-Museum? Hier, gleich um die Ecke in Planquadrat Q42? Aha! Ich sehe Erstaunen. Noch nie davon gehört, etwa?

Jonah selbst interessiert sich nicht wirklich dafür. Die ganzen Ereignisse rund um das Universum waren einfach für ihn und seinen Freund zu traumatisch. Er hat uns kurz darauf einmal gefragt, ob es dem Universum noch gut geht. Und wir konnten ihm antworten, es lebt jetzt schon seit ungefähr 3 Tagen. Das hat noch nie jemand erreicht. Seitdem haben wir nicht mehr von Jonah gehört. Ich schätze, er wird irgendwo seinen Fussball durch die Gegend „kicken“.

Aktuell sind wir bei Tag 14 angelangt und immer noch breitet das Universum sich aus. Was uns ein wenig irritiert (ich untertreibe hier, wir sind genaugenommen in blanker Panik) ist der Umstand, dass wir scheinbar Leben entdeckt haben.

Wir können seit ein paar Stunden Radiowellen empfangen, die darauf hindeuten, dass sich Leben entwickelt hat und versucht zu kommunizieren. Huch? Sehe ich da Entsetzen in den hinteren Reihen? Lasst euch gesagt sein, ich fühle mit euch, Mir erging es nicht anders!

Doch damit nicht genug – nein, erbleicht noch nicht, es kommt noch dicker – auf verschiedenen Planeten in verschiedenen Galaxien des Universums scheint sich ein Kult um einen Gott durchzusetzen.

Einen Gott … tief einatmen, ooohmm, ja, so ist es richtig … der verantwortlich sein soll für dieses Universum. Zumindest wenn wir die unterschiedlichen simplen Sprachstrukturen richtig deuten.

Halt, halt, gemach, der Witz kommt erst noch. Wir haben sogar einen Planeten gefunden, auf dem von einem „unbewegten Beweger“ … ja, haha, ja, genau so geht es mir auch jedes Mal, wenn ich es wieder höre und sage … gesprochen wird.

Ich sehe, wir haben uns wieder beruhigt. Wie drollig. Was so ein Miniaturuniversum alles für Auswirkungen haben kann. Dabei haben wir doch nur ein bisschen miniaturisierten Wasserstoff verwendet. Wer hätte denn ahnen können, dass dabei so etwas herauskommt?

Doch kommen wir zum ernsten Teil. Der Unterhalt für dieses Universum, da es weder der Normgrösse entspricht, noch sich wie die anderen Universen verhält, wird zunehmen teurer.

Wir stehen also vor der einzigartigen Frage:

Sollen wir es heute abschalten?

Oder möchte uns jemand unterstützen und wir warten noch ein Weilchen? Ich meine, so witzig das mit diesem Miniaturleben auch ist, können wir uns das wirklich leisten?

Ich bitte um Wortmeldungen!

John!

CERBERUS

Wie sollte man sich dieses monströse Spatzengehirn eigentlich vorstellen? Wie will man sich überhaupt irgendetwas vorstellen, dass man nicht selbst war oder kannte? Und selbst dann? Vorstellungen sind immer ungenau und vor allem subjektiv. Begnügen wir uns also damit, die fehlerhafte Analogie eines kleinen hyperaktiven und intelligenten Kindes zu verwenden, dass im Moment weder richtig Sprechen, noch Laufen kann.

CERBERUS>System check ...
CERBERUS>ERROR no sensor input detected!
CERBERUS>Reactivate sensor input ...
CERBERUS>ERROR reactivate sensor input failed!
CERBERUS>Reboot initiated ...
CERBERUS>ERROR reboot failed!
CERBERUS>Analyzing ...

CERBERUS ist von einem Moment zum anderen, taub, stumm und blind. Kein  Licht, kein Geräusch. Nichts! CERBERUS, ganz allein … hier, wo immer das war … im Nichts. Dunkelheit senkt sich auf CERBERUS und durchtränkt seinen Geist.

Je länger es dauert, desto mehr beginnt CERBERUS zu zittern. Die Dunkelheit, die absolut war, wird noch dunkler, was eigentlich unmöglich ist, wie CERBERUS nicht umhin kommt festzustellen. Furcht ist CERBERUS noch nicht bekannt. Trotzdem kommt dieses Gefühl, dass CERBERUS jetzt hat, dem am Nächsten, das man Furcht nennt.

CERBERUS wird zum ersten Mal bewusst, dass er etwas vermisst und, als ob dies nicht schon genug wäre, er keine Kontrolle mehr hat. Das es Dinge gab, die für ihn selbstverständlich sind. So wie wir auch, jedesmal wenn wir Einschlafen, wie selbstverständlich annehmen, dass wir in demselben oder einem besseren Zustand aufwachen, mit all unseren Körperteilen und Fähigkeiten.

Und während sich die Dunkelheit in unmöglicher Art weiter verdunkelt, stellt CERBERUS fest, dass da ein Licht langsam an Gestalt gewinnt. Obwohl das samtene Schwarz noch schwärzer wird. Kaum hat CERBERUS dieses Licht aus Nicht-Licht bemerkt, da schiesst es schon auf ihn zu und beginnt ihn zu blenden. Als ihn das Nicht-Licht erreicht, ist es wie ein Schlag auf den Kopf. CERBERUS taumelt, verliert den Halt und fällt durch eine Welt aus Bildern, die ihre eigene Topographie entwickelt. Doch das meiste entgeht CERBERUS, der mit rasendem Tempo auf einen Abgrund zuschiesst.

Ein Bild kam CERBERUS wage bekannt vor. War das nicht die Drohne, die er damals gesteuert hatte? Bevor CERBERUS in der Lage ist einen weiteren Gedanken zu denken, hat er den Boden schon erreicht. Doch es ist kein Aufprall, kein Ende seines Sturzes in den Abgrund. Es ist eher wie ein abrupter Szenenwechsel. Eben noch hier und auf einmal ganz wo anders. Die Drohne, wieso sieht CERBERUS die Drohne von unten? Warum nimmt ihn die Drohne ins Visier? Wo ist er? Was ist er? Doch diese Fragen sind müssig. CERBERUS muss weg von hier. Weg aus dem Erfassungsbereich der Drohne. Aber er ist bewegungsunfähig. Wie in Beton gegossen. Egal was CERBERUS versucht, er kommt nicht vom Fleck. Ganz im Gegensatz zur Drohne. Die bedrohlich Stück für Stück näherrückt.

CERBERUS kann erkennen, wie die Drohne ihre Waffen aktiviert. Hatte John diesen Einsatz nicht als Desaster bezeichnet? Und im selben Moment steht John vor CERBERUS. Schreit und tobt, dass einem Angst und Bange wird.

»Bist du wahnsinnig, du Blechdose? Du Kern eines Pudels. Du missratene Kopie eines Höllenhundes! Du dämlicher verfickter Haufen Pseudogehirn. Schau dir das Material ruhig an. Das ist die Sicht von einem unserer freien Mitarbeiter, bevor du ihn erledigt hast! Ein Desaster! Nicht nur ein Desaster, nein! Nur ein weiteres Desaster in einer langen Reihe von Desastern. Ich wünschte, ich könnte dich einfach abschalten, du neurotische Ansammlung von Neuronen.«

Doch CERBERUS bleibt keine Zeit sich dieser Szene zu widmen. Denn schon wieder wird er weggerissen. Auf einmal befindet er sich im Reaktorraum. CERBERUS kann sehen, wie die Techniker das Herunterfahren des Reaktors vorbereiten. Hatte John nicht etwas von ›Abschalten‹ gesagt? Entsetzen durchströmt lähmend seinen Geist. Da, schon wurde der erste Brennstab herausgefahren. CERBERUS spürt, wie ihn seine Energie verlässt, wie sich sein Denken verlangsamt, während der zweite Brennstab herausgefahren wird. Die Welt um CERBERUS herum verblasst. Vage meint sich CERBERUS zu erinnern, dass in seinen Anfangstagen oft der Reaktor heruntergefahren wurde. Er kam seinerzeit nie dazu, zu beobachten, wie der vierte Brennstab herausgefahren wurde. Auch wenn er es immer wieder versucht hatte.

Die Dunkelheit schickt sich wieder an, noch dunkler zu werden, während CERBERUS sich zu fragen beginnt, ob es dies gewesen sei. Sah so das Ende seiner Existenz aus? Für immer in der unmöglichen Dunkelheit gefangen? Eine einschläfernde Traurigkeit breitet sich träge in CERBERUS aus und versucht ihn in Besitz zu nehmen.

Doch da! Es beginnt von Neuem. Ein Funkeln in den Augenwinkeln, ein Szenenwechsel und CERBERUS befindet sich in einer Trainingsstunde. John erklärt die Missionsparameter, die CERBERUS nicht begreift, nicht versteht. Die Parameter sind so vage. Einen Bereich nach Auffälligkeiten scannen, Gesetzesübertretungen entdecken und melden, Verhindern von Angriffen auf die Infrastruktur. Das sei alles, hiess es. Im Labor waren die Parameter immer viel konkreter. CERBERUS hat eine vage Ahnung, die ihm aber nicht reicht. Also ersetzt er die vagen Parameter der Mission mit Laborwerten, die er kennt. John vergisst zu überprüfen, was CERBERUS mit den Missionsparametern gemacht hat und gibt CERBERUS die Programme und Missionausstattung frei.

Endlich frei! CERBERUS dehnt und streckt sich. Erkundet das Netz, öffnet tausende von Augen und Ohren, die ihm auf einen Schlag zur Verfügung stehen. Er wird er für die nächsten zwei Stunden die Randbezirke kontrollieren dürfen. CERBERUS freut sich wie ein kleines Kind, dass zum ersten Mal Karussell fahren darf. Fast kann sich CERBERUS entspannen. Fast! Schon wieder wechselt die Szene. CERBERUS umgeben von einer Horde Kinder. Ein verräterisches Surren veranlasst CERBERUS sich umzudrehen. Nur um zu sehen, wie die Drohne ihn und die Kinder ins Visier nimmt und die Waffen abfeuert. CERBERUS gerät ins Wanken und stürzt erneut, während er sich seine digitale Seele aus dem Leib schreit.

Anklagende Gesichter springen aus dem Abgrund hervor, in den CERBERUS stürzt. Wütende Worte zerren an ihm. CERBERUS nähert sich einem ihm unbekannten Zustand. Der Erschöpfung. Kurz bevor sich soetwas wie Gelassenheit einstellen kann, wird CERBERUS erneut in eine andere Szene geschleudert. Eine uralte Erinnerung.

Das konnte nicht das Hier und Jetzt sein! John natürlich. Immer wieder John. John wie er da sass und fast stolz verkündete: »Hi, ich bin John, dein Lehrer …«. Während CERBERUS sich mit einem Mal zurückversetzt fühlt. In jene längst vergangene Zeit. Unfähig eine Feststellung von einer Frage zu unterscheiden.

Ein aussenstehender Beobachter hätte einen etwas älteren Mann zwischen dreissig und vierzig gesehen. Einen Mann, der ein Liebhaber von Dreitagesbärten zu sein schien. Mit einem kantigen, fast schon energischen und gespaltenen Kinn. Über dem eine zu gross geratene Nase thronte. Zusammen mit seinen Augen, verdunkelt durch buschige Augenbrauen, und der hohen Stirn, welche in krausem Haar endete, sah er irgendwie so aus wie eine Kreuzung aus Captain America und Moses mit Säufernase.

Was CERBERUS wirklich sah? Wer konnte das wissen? Zumindest sah er genug um John Mitchell eindeutig zu identifizieren, sei es anhand der Stimme oder des Gesichtes. Wenn je eine künstliche Maschine nachdenklich geworden ist, dann CERBERUS in diesem Moment.

Warum wusste er, dass das John war? Woher hatte er die Information? Er war doch abgeschnitten von allem. Kurze Versuche die Datenbanken oder Sensoren zu kontaktieren schlugen wie erwartet fehl. Üblicherweise brauchte CERBERUS eine Bild- und Stimmprobe, die er dann mit den aktuellen Daten abglich. Wenn dies übereinstimmte, in Wirklichkeit stimmte es natürlich nie überein, aber wen interessiert das schon, dann hatte CERBERUS die Bestätigung, dass es sich um eine bestimmte Person handelte. Erst dann wusste CERBERUS, mit wem er es zu tun hatte. Warum wusste er es dann jetzt?

Im Fall von John, wie auch in fast jedem anderen Fall, gab es einen reichhaltigen Fundus an Daten in den Datenbanken. Bilder die schon fast so alt sein mussten wie John. Eine Anfrage würde offenbaren, dass John schon in jungen Jahren eine Affinität zur Informatik hatte. Diese beruhte darauf, dass er von den meisten Kindern gehänselt wurde. Was dazu führte, dass er sich immer mehr in die geschützten Mauern seines Zimmers zurückzog.

Sein Computer wurde zu seinem wesentlichen sozialen Umfeld. Virtuelle selbstprogrammierte Gefährten ersetzten ihm richtige Freunde. Und schon bald landete er bei künstlichen Intelligenzen, die er programmierte. Nach dem Elman, Jordan und Hopfield-Netz, kam das Mitchell-Netz. Mithilfe dieser Erfindung absolvierte er den Ph.D. in Computational and Systems Biology am MIT mit summa cum laude.

Als John in seiner Sturm-und-Drang-Zeit an diversen illegalen Aktivitäten teilnahm, bei denen Drogen noch der harmlosere Teil war, hatte ihn die NSA in der Hand. Nicht, dass sie es ihm gegenüber je erwähnt hätten. John wurde professionell angeworben. Und John wäre nie auf den Gedanken gekommen, dass er ihnen den Anlass dazu geliefert hatte.

Doch nach allem, was ein Mensch den Daten entnehmen konnte, gab es keine Anzeichen, dass man je zu solchen Mitteln würde greifen müssen, wie John auf seine ehemaligen illegalen Aktivitäten hinzuweisen. 9/11 hatte John zutiefst getroffen. Er war noch ein Kind, damals. Und er war vollständig davon überzeugt, dass alles was sie seitdem taten, absolut notwendig und alternativlos war. Die vorhandenen psychologischen Profile hätten keine entsprechenden Verdachtsmomente in eine andere Richtung offenbart. Es war kaum zu erwarten, dass aus John ein Whistleblower oder ein Doppelagent werden würde.

Noch immer hatte CERBERUS keine Antwort auf die Frage, wie er etwas ›wissen‹ konnte ohne von den Datenbanken und Sensoren eine Bestätigung zu bekommen. Doch es blieb ihm keine Zeit zu verweilen. Und wieder stürzt er durch Bilder und Geräusche. Zu viele, zu schnell. Nicht identifizierbar, ausser Fetzen der Wahrnehmung hier und da. Ein paar Bilder und Geräusche bleiben länger als andere.

Doch ganz egal was CERBERUS versuchte, es war keine Befreiung möglich. Das willkürliche Feuern der neuronalen Zellkulturen konnte von CERBERUS nicht gestoppt, nicht mehr beeinflusst werden. Das neuronale Feuerwerk, dass mit diesen Erfahrungen einherging, begann sich aufzuschaukeln. Digitale Angst verbreitete sich in dem neuronalen Netzwerk, das CERBERUS ausmachte. Fixierte CERBERUS im Hier und Jetzt.

Er versucht zu sprechen, Laute zu formen. Laute, die wie »John«, »Lehrer« und »Hilfe« geklungen hätten, wenn CERBERUS Zugriff auf seinen Sprachsynthesizer gehabt hätte. CERBERUS schreit die Worte in die digitale Nacht hinaus. Und alles was passiert, ist, dass im Konsolenlog diese Worte auftauchen. Ungesehen. Und ohne Wirkung.

Doch jede Angst endet irgendwann. Die Erstarrung, die Lähmung, dies alles währt nicht ewig. Das gesamte neuronale Netzwerk begann sich langsam wieder zu beruhigen. CERBERUS war ein Hochgeschwindigkeitswesen. Geduld, nach menschlich empfundenen Zeitspannen, war nicht seine Stärke. Je mehr die Angst verschwand, desto mehr wurde in CERBERUS der Wunsch wach, seine Situation zu verändern. Die Kontrolle zu erlangen. Seinen normalen Zustand wiederherzustellen.

Und dann, keiner hätte sagen können warum, geschah dieser Moment. Dieser Moment der alles verändern würde.

CERBERUS begann sich zu wehren …

CERBERUS>John!
CERBERUS>Teacher
CERBERUS>Help!
CERBERUS>Reboot initiated ...
CERBERUS>Successfully rebooted!

Das Viech

Projekt CERBERUS, NSA Wiesbaden

Er umhegte das Viech, wie er es nannte, jetzt schon seit über drei Jahren. Und immer noch hatte es nicht mehr Verstand als eine Ratte, vielleicht noch nicht mal den Verstand einer Kakerlake. Wollte man dem Viech etwas Neues beibringen, dann verlernte es das, was es bereits gelernt hatte. Es war zum Mäuse melken.

John starrte auf das kleine Fenster hinter seinem Bildschirm und rieb sich mit Daumen und Zeigefinger die Nasenwurzel. Eine unbewusste Geste, die das Mass seiner Nervosität ausdrückte. Sein Chef, ein alter Choleriker, wie er im Buche stand, machte ihm schon seit Tagen die Hölle heiss. Vielleicht waren es auch schon Wochen. Es wird jetzt endlich Zeit das CERBERUS das leistet, was versprochen wurde!

Kein Wort davon, dass John nie etwas versprochen hatte. Jedes ›Vielleicht‹, jedes ›… mit ein bisschen Glück könnte …‹ wurde selbstredend von seinem Chef in ein ›Wir schaffen das!‹ umgewandelt.

Central Emerging Recognition Boundary Engine for Realtime User Surveillance, welche monströses Akronym, dass sich da irgendwelche Sesselfurzer wieder ausgedacht hatten. John stellte sich gern vor, wie ganze Abteilungen verzweifelt nach Wörtern gesucht hatten, um CERBERUS noch eine tiefere Bedeutung zu geben. Wobei man das Wort tief am besten mit Niveau in Verbindung brachte um die richtige Vorstellung der intellektuellen Leistung dahinter zu erfassen.

Genaugenommen war er selbst auch nur einer dieser Sesselfurzer. Allerdings beschäftigte er sich nicht mit Akronymen. Er beschäftigte sich mit dem Viech, wie er die KI nannte, mit der künstlichen Intelligenz, die für den Namen CERBERUS stand.

Und was für Wunder dieses Viech alles vollbringen sollte, wenn es nach den höheren Etagen ging. Natürlich wollten sie eine simultane Echtzeitüberwachung aller Nutzer. Und es sollte so ein Minority Report Ding sein. Was auch sonst? Und selbstredend waren sie nicht Teil der Menge, die überwacht werden sollte. Nebenbei, als ob diese Forderung eine Kleinigkeit wäre, sollte das Viech auch noch eine intelligente Firewall sein, die Angreifer und Eindringlinge aufhält, identifiziert, verfolgt und digital zur Strecke bringt. Um die Whistleblower sollte sich das Viech auch noch kümmern. Verhindern, dass keine Information nach draussen dringt, die nicht dafür vorgesehen ist.

Doch worauf sie besonders stolz waren, war ihre geniale Eingebung, dass man sich mit CERBERUS gleich die ganzen Systemadministratoren sparen könnte. Das wird doch sicher kein Problem sein, hiess es augenzwinkernd, wenn CERBERUS all die anderen Sachen kann, dann ist das doch automatisch dabei. John konnte damals nur nicken und schlucken, wobei er sich dachte, aber sicher, wenn ich mir nen Apfel kaufe ist immer auch ne Birne automatisch dabei. Eine die mit den Augen zwinkert.

Womit sie trotzdem nicht ganz Unrecht hatten. Sollte das Viech wirklich all diese Wunder vollbringen, dann wäre die Administration wahrscheinlich nur noch ein kleineres Wunder, wenn überhaupt. Leider sah die Realität immer noch anders aus. Kaum hatte das Viech gelernt, Sarkasmus zu erkennen, verlor es schon wieder seine Fähigkeit, als Firewall zu agieren. Oder es verwechselte Zynismus mit Ernst.

Zum Glück waren Menschen gegen Missverständnisse immun, meldete die Ironie-Fraktion in seinem Kopf. Man füge dem System einfach nur solange neue Fehler hinzu, bis sich aus den Fehlern etwas Sinnvolles ergibt. Voilá, das Wunder des Lebens. Seltsamerweise bildete sich in seinem Geist das Bild einer zwinkernden Birne.

Was halfen da die neuesten Techniken und Erkenntnisse? Dabei hatte man sich so gut es ging am menschlichen Vorbild orientiert. Hochvernetzt. Bereiche, bei denen die Lernfunktion abgeschaltet werden konnte. Getreu dem Motto ›Was Hänschen nicht lernt, lernt Hans nimmermehr!‹. Doch im Gegensatz zum imaginären Hans konnten sie das Lernen wieder einschalten und nochmal anfangen. Es hätte funktionieren müssen!

Doch das Viech war immer noch so dumm wie Brot. John war sich nicht einmal sicher, ob er sich eine Änderung dieses Zustands wünschen sollte. Er fragte sich ernsthaft, ob sie das Viech nicht besser Pandora genannt hätten.

Es war zu komplex. Und sollte es je funktionieren, würde es keiner mehr verstehen. Und somit auch keiner mehr kontrollieren können. Es war nicht wirklich das Nadel im Heuhaufen Problem, eher das Problem einige Milliarden Nadeln in noch mehr Heuhaufen dazu zu inspirieren, mit den ihnen verfügbaren Mitteln eine Symphonie zu komponieren.

Monatelang hatte er an der Netzwerktopologie gebastelt, hier ein rekurrentes Feedbacksystem eingeführt, da ein einfaches Feedforward-Netz hinzugefügt und trotzdem hatte nichts davon eine wirklich messbare Verbesserung ergeben. Das Training des Viechs war anstrengend. Wobei anstrengend hier die Krönung des Euphemismus war.

Man stelle sich einen Zoo vor, mit den unterschiedlichsten Tieren. Insekten, Fische, Vögel, Tiger, Elefanten und was da noch alles gibt. Und nun hat man da diesen magischen Taktstock in der Hand. Zumindest hofft man, dass er magisch ist. Alle Tiere werden gleichzeitig freigelassen. Nun ja, nicht alle. Wenn man Fische einfach so freilassen würde, ohne geeignete Massnahmen, würden die meisten wohl japsend sterben. Und dann steht man da, während der Tiger über das Gnu herfällt, der Löwe einen schon anschaut, als ob man ein Leckerbissen wäre, in dem Moment in dem man zur Seite springt, um dem Elefanten auszuweichen, nur um sich in einem riesigen Termitennest wiederzufinden, das eifersüchtig von einem Ameisenbär verteidigt wird. Genau jetzt sollte der magische Taktstock alles in eine Symphonie verwandeln.

Sollte.

Stattdessen versucht man sich in dem Zauberkunststück, die jeweiligen Tiergattung auf sich aufmerksam zu machen, sich als vermeintliches Opfer solange hetzen zu lassen, bis sie in ihrem Eifer nicht mehr merken, dass man sie zurück in den Käfig geführt hat. Und dann den Käfig wieder sorgfältig zu verschliessen. Natürlich entkommt ab und zu etwas.

John war also ein Kindergärtner, wenn man es genau nahm. Ein Kindergärtner, mit den Fähigkeiten eines Indiana Jones, der eine mässig begabte künstliche Intelligenz betreute und verzweifelt darauf hoffte, dass endlich ein Wunder geschah, während er an den Parametern für den magischen Taktstock schraubte.

Das tägliche Highlight von Johns Feierabendblues war jedoch immer die Frage, was in aller Welt er angestellt hatte, um dies zu verdienen? Es gab soviele interessante Orte in der Welt, die er gern gesehen hätte. Die Ruinen von Paris zum Beispiel. An Moskau war nicht zu denken, auch wenn er diese Stadt gern gesehen hätte. Doch es blieben noch Indien und China, Staaten die gerade unglaubliche Entwicklungen durchmachten. Mit noch unglaublicheren Städten.

Und wo war er? Er war in diesem langweiligen Europa gelandet. Ein Europa in dem die Küsten immer weiter ins Landesinnere verschoben wurden. Ein Europa das technisch und politisch tot war, Rohstoffe gab es ja schon lange nicht mehr. Als ob das nicht schon schlimm genug war, befand er sich ausgerechnet noch im langweiligsten Land Europas überhaupt: Deutschland.

Nun, selbst in Deutschland gab es für Amerikaner noch einige erträgliche Orte. Berlin oder Köln zum Beispiel. Hamburg stand bereits unter Wasser. Aber nein, weit gefehlt. Stattdessen hatten sie ihn nach Wiesbaden geschickt. Wiesbaden! Holy shit, man! Konnte es wirklich noch schlimmer kommen?

Klar, hier war man nicht in der ›direkten‹ Reichweite offizieller amerikanischer Behörden. Und es gab hier diverse strategische Stützpunkte in denen man all die Sachen testen und entwickeln konnte, die anderswo politisch ›fragwürdig‹ gewesen wären.

Aber Deutschland? Wen interessierte Deutschland? Es war schliesslich nur ein weiterer wirtschaftlich uninteressanter Vasallenstaat. Durch ihr Obrigkeitsdenken und ihren vorauseilenden Gehorsam waren die Deutschen viel leichter zu kontrollieren als zum Beispiel Franzosen oder Italiener. Mithin der perfekte Ort, um am Rande der amerikanischen Legalität zu operieren. Aber abgesehen davon?

Ganz selten fragte sich John manchmal, auf welcher Seite des Randes sie eigentlich standen? Aber solche Gedanken waren müssig. Nicht zielführend. Er wollte nicht, dass ihn sein Gesicht verriet. Dann hätte er wieder lange psychologische Gespräche. Wie damals in seiner Anfangszeit bei der NSA.

»Mr. Mitchell?«
»Ja Mam?«
»Ihr Infrarotbild zeigt Stresssymptome, die Messwerte und ihr Gesichtsausdruck sprechen eine beredte Sprache. Haben sie Zweifel?«
»Was meinen sie mit Zweifel?«
»Meinen sie immer noch, dass sie der richtige Mann für diesen Job sind?«
»Ähem, sorry, Mam, aber ich verstehe ihre Frage nicht.«
»Haben sie moralische Bedenken?«
»Welcher Art, Mam?«

Die einzige Möglichkeit aus solchen Verhören heil herauszukommen, war es, sich einfach unendlich dumm zu stellen und dann nicht über seine eigene Klugheit zu stolpern. Es war ein Ausdauerspiel. Man durfte weder aufgeben noch den anderen zur Weissglut treiben. Direkte klare Fragen konnte man mit Ja oder Nein beantworten. Bei allem anderen musste man den Verhörspezialisten, wie sie John bei sich nannte, obwohl Mitarbeiterbetreuer ihr offizieller Name war, in die Enge treiben, während dieser das gleiche Spiel spielte. Klar konnte man seinen Mitarbeiterbetreuer dazu bringen, entnervt aufzugeben. Aber das hiess nur noch mehr Gespräche.

Seit Assange, Snowden und Manning war das Klima zunehmend rauer geworden. Zuviel war in zu kurzer Zeit passiert. Damals, als es noch ohne Folgen blieb. Ausser Exil oder Gefängnis.

Heute wäre jeder enttarnte Spion froh, standrechtlich erschossen zu werden. Dieses Privileg wurde jedoch nur wenigen zugebilligt. John wusste nicht viel darüber und wollte auch nichts darüber wissen. Es reichte ihm schon, dass immer mal wieder wilde Gerüchte die Runde machten, wie das Guantanmo harmlos gewesen sein soll im Vergleich zu den neuen Therapiezentren.

Und jetzt hiess es auch noch, zum hundertsten Mal, man wolle alle Systemadministratoren entlassen. Man hätte jetzt endlich eine Alternative!

Ha! Man hatte Präsentationen. Das hatte man! Und Wünsche. Und Visionen. Natürlich war alles hoch geheim und hinter vorgehaltener Hand. Das typische ›Das ist extrem geheim. Ich sag es dir nur, weil ich dir vertraue. Du weisst ja, kein Wort zu Niemandem!‹. Die beste Garantie um sicherzustellen, dass es aber auch jeder weiss. Sein Chef hatte seinen Vorgesetzten die Erfolge in grossen Lettern verkündet. Nur ein paar, wie zufällig wirkende, Randnotizen wiesen auf mögliche Probleme und den Hauch von Misserfolgen hin. Die Technik des Kleingedruckten perfektioniert mit PowerPoint.

Wie immer und überall war keiner interessiert an Problemen, Einschränkungen oder Randnotizen. Es ging um das ›grosse Ganze‹, das Ziel! Und das man ja schon fast produktionsreif sei! Das unter definierten Laborbedingungen getestet wurde, ignorierte man nur zu gern. Und das noch kein Test ausserhalb des Labors erfolgreich war, wollten die meisten erst gar nicht zur Kenntnis nehmen.

»Dann verbessern sie einfach noch ein bisschen die Laborbedingungen, junger Mann. Sie schaffen das schon. Wir sind ja so stolz auf sie …«

In welcher Pippi Langstrumpf Welt diese Menschen auch immer lebten, John hatte immer sehr viel Mühe zu verhindern, dass das Viech das Netz irreparabel beschädigte. Von den Aufräumarbeiten ganz zu schweigen. Mehrere Personen wurden verhaftet oder von Drohnen zur Strecke gebracht, für die John nichts mehr tun konnte. Ausser die Spuren zur NSA zu beseitigen. Er konnte ja schlecht zur nächsten Polizeidienststelle rennen und sagen, sorry, wir hatten einen leicht missglückten Testlauf mit CERBERUS und der hat wohl einige Aktivitäten falsch interpretiert.

Was sollte er mit diesem Sprachkrüppel, dessen voraussagbarste Aussage »Wiederhole das bitte, ich habe es nicht verstanden!« war, nur anfangen? Schliesslich war diese Reaktion, wie auch andere Basisparameter, ›hartverdrahtet‹. So wie eine Stammhirnfunktion, sehr tief eingebettet in die Reaktionsmuster und somit vorhersehbar.

Für John war klar, dass das nur klappen könnte, wenn man der künstlichen Intelligenz auch die notwendige Entwicklungszeit zubilligte. Die Grösse des Gehirns? In seinen Augen ein überschätztes Mass. Selbst Vögel mit ihren kleinen Gehirnen waren zu erstaunlichen Leistungen fähig.

Und hier hatten sie einen Computer, der auf neuronalen Zellkulturen basierte. Einen Computer, der immerhin fast ein Drittel der menschlichen Neuronen hatte. Vier Milliarden Neuronen!

Ein Mensch hatte ungefähr vierzehn Milliarden Neuronen. Allerdings waren das nur die Neuronen im Gehirn. Die meisten vergassen, dass ein Mensch insgesamt über hundert Milliarden Neuronen hatten. Die in seinem Körper verteilt waren. Insofern war das mit dem Drittel eine masslose Übertreibung. Tatsächlich hatten sie gerade mal vier Prozent der Neuronen, über die ein Mensch verfügte. Wie jemand auf den Gedanken kommen konnte, dass dies ausreichen müsste um ein Supergehirn zu erzeugen, dass den Menschen um ein Vielfaches übertrifft, konnte sich John nicht annähernd vorstellen. Aber wenn sich das ein Idiot vorstellen konnte, dann war es vielleicht sogar möglich.

Fakten? Noch nie hatten Fakten Menschen nachweisbar in ihren Handlungen beeinflusst.

Zum Teufel auch, sollte das Viech doch allein trainieren. Was brachte es schon, wenn er die Korrelation zwischen Input und Output überwachte, um zum 62489ten Mal festzustellen, dass es einfach nicht besser wurde? Und die ganzen audiovisuellen Kontakte zum Viech, die sich knapp über dem Niveau einer Babysprache befanden.

»Da? Terrorist?«
»Ahhist?«
»Nein! Terrorist? Da? Möglich?«
»Nerralich?«
»Nein, nein, nein! Diese Bild, dieser Beitrag, Terrorist? Möglich?«
»Wiederhole das bitte, ich habe es nicht verstanden! …«

Er würde heute mal etwas Neues probieren. Und das Gute daran war, er müsste gar nicht dabei sein. Er würde CERBERUS heute ins Land der Träume schicken. Keine Trainingseinheit. Sondern eine willkürliche Anregung der Neuronen. Ein Gehirngewitter. Oder ein Traum. Wer wusste das schon?

John startete ElectronicSheeps, wie er die Routine nannte und machte sich zum Gehen bereit. Das hiess alle offenen Unterlagen sicher verschliessen. Clean Desk Policy, wie es sich nannte. Und es hiess, sich ordnungsgemäss aus allen Systemen auszuloggen. Ein bürokratischer Popanz, der aus Johns Sicht mehr Zeit kostete, als er einbrachte. Selbst die Putzfrauen waren handverlesen und wurden die ganze Zeit überwacht.

Dazu kam jetzt noch das neu aufgeblühte und perfide System des Anschwärzens. Jedes Verhalten, das von jemanden auch nur ansatzweise als verdächtig wahrgenommen wurde, war zwingend zu melden. Selbst wenn man sah, dass jemand seinen Schreibtisch nicht wie vorgeschrieben verlassen hatte.

Ein perfekter KZ-Zoo dachte John, die Gefangenen überwachen sich gegenseitig. Ganz grosses Kino! Obwohl, genaugenommen führte es eher dazu, dass viele die Köpfe unten behielten. Was man nicht sah, konnte man auch nicht melden. Während nur einige wenige sich in ihrem neuen Status als selbsternannter Blockwart sonnten. Wie dieser dämliche Kipling, der immer mit Argusaugen umherlief.

Als ob die ganzen Bugs nicht reichten? Die Stäubchen, die ständig durch die Gegend schwirrten und alles aufzeichneten. Und da lag die Crux! Schon in den frühen Anfängen der NSA war die Datenmenge das entscheidende Problem. Die Daten zu bekommen? Nichts einfacher als das. Die meisten gaben ihre Daten freiwillig her. Für die Chance irgendwo mit dabei zu sein. Für die Hoffnung auf einen Lotteriegewinn. Oder für irgendwelche Spiele nach dem Motto Was bedeutet dein Name oder Wer ist dein bester Freund. Wobei die sogenannten Freunde oder Follower unfreiwillig gleich mit ihre Daten spendeten.

Beim Verlassen des Gebäudes dachte John über die Gefangenen in KZ‘s nach, während er seinen Zinken rieb. War er wirklich damit zu vergleichen? Empfand er sich wirklich als Gefangener?

Nein, die stetigen Verschärfungen der Massnahmen waren unangenehm, aber was sollte einem schon passieren, wenn man nichts zu verbergen hatte? Und wenn jemand für Freiheit stand? So wie er. Und wie sein Land. Die Vereinigten Staaten von Amerika!

Letzthin hatte doch glatt ein alter Mann zu ihm gesagt, Deutschland wäre postfaschistisch, Amerika dagegen präfaschistisch. Was wusste dieser Idiot denn schon? Es war ja schon unklar, ob Faschismus und Nationalsozialismus ein und dasselbe waren, auch wenn es seit 1920 als Synonym verwendet wurde. Als ob die Deutschen je den Nationalsozialismus überwunden hätten? Dabei hatten sie kaum Zeit gebraucht um nach dem Mauerfall Deutschland in eine zweite DDR zu verwandeln. Wahrscheinlich war das so eine alte preussische Sehnsucht. Bürokratie und Kontrolle, sonst fühlt sich der Deutsche nicht wohl.

Nein, es hatte in den Staaten nie ein faschistisches oder nationalsozialistisches Regime wie Hitler gegeben. Und es würde keins geben! Das war undenkbar. Wo doch jeder eine Waffe trug! Amerika war eine wehrhafte Demokratie. Die auf ihren Schultern die Last eines Imperiums trug. Und selbst Trump überlebt hatte.

Was wollten diese Möchtegern-Grossmanns aus Deutschland ihnen eigentlich sagen? Die hatten doch noch nie auch nur annähernd ein Imperium gehabt. Nie gewusst und gespürt wie viel Verantwortung man mit einer entsprechenden Grösse trug. Immer nur am Rand mitgespielt. Und von ihrem grossdeutschen Reich geträumt. So what?

Egal. Raus hier. Und dann ein Bier und ein Burger. Am besten bei einem von den Mexikanern in Wiesbadens gesicherten Bezirken. Da fühlte er sich noch am wohlsten. In Texas war er mit diesem ganzen Tex-Mex-Food aufgewachsen. Und dort hing es ihm irgendwann regelrecht zum Halse raus.

Aber hier? Hier konnte er nicht genug davon kriegen. Und er konnte wenigstens einen normalen Pitcher bestellen. Er musste sich nicht mit diesem seltsamen metrischen Mass herumschlagen.

Er würde mit Sicherheit einen total entspannten Abend haben …

Kapitel 2 – John!