Unsere Rolle als Primaten in der Evolution der Zivilisation

Man mag Zivilisation mit Technik und Ressourcenversorgung gleichsetzen. Mir liegt dieser Gedanke jedoch eher fern. Es ist das notwendige Fundament, aber nicht der Ausdruck und die Entwicklung von Zivilisation.

Ich komme also nicht darum herum, Zivilisation und ihre Entwicklung, wie ich sie denke, zu definieren.

Versuchen wir es mit einfachen Beispielen.

Zur Primaten und Ego-Sphäre würde ich Folgendes zählen:

  • Streben nach dem eigenen Wohl
  • Streben nach dem Wohl der Nachkommen
  • Streben nach dem Wohl der Anverwandten

Dies ist für Primaten auch gültig, wenn es sich nicht um Menschen handelt.

Zur Zivilisations-Sphäre würde ich Folgendes zählen:

  • Streben nach dem Wohl der Mitwelt
  • Streben nach dem Wohl der eigenen Spezies
  • Streben nach dem Wohl der lokalen Gruppe über Blutsverwandtschaft hinaus

Die Reihenfolge ist mit Absicht gewählt.

Aus meiner Sicht der aktuellen Geschichte sind wir gerade knapp an dem untersten Punkt und hadern damit. Ziehen uns, wie üblich in Krisenzeiten, wieder auf unsere Primateninstinkte zurück.

Die beileibe nicht schlecht sind. Wären sie es, wären wir als Gattung längst ausgestorben.

Das legt auch den Rahmen für das Dilemma Mensch:

Wir verleugnen unser Sein und unsere Basis, in der Hoffnung, das zu sein, was wir gerne wären.

Unsere Primateninstinkte sind weit entfernt davon, kompatibel mit einer technisierten und automatisch organisierten Welt klarzukommen.

Wir fallen dann in Herdenverhalten zurück. Was zwar ein effektives evolutionäres Schema darstellt, aber keine Zivilisation. Würde ich behaupten, ohne vom Mythos Lemming reden zu wollen.

Alles Leben, welches jetzt noch existiert, hat eine lange Entwicklung hinter sich. Was leider viel zu oft vergessen oder nicht angemessen gewürdigt wird.

Die Evolution ist blind grausam, nicht wie Lebewesen, die das sehend sind und sich blind stellen.

Diese Entwicklung hat dem stetigen Evolutionsdruck standgehalten und Methoden entwickelt, kompatibel mit der Mitwelt zu sein. Bis zu einem gewissen Punkt.

Sobald die eigene Existenz, sofern wahrgenommen, ins Spiel gerät, reagieren die meisten Lebewesen gleich:

Flucht, wenn möglich oder vorteilhafter, sonst Angriff.

Treten wir einen Schritt zurück. Das Fundament haben wir zweifelsohne geschaffen. Es gibt einen, global gesehen zwar kleinen, aber mengenmässig nicht unrelevanten Teil der menschlichen Bevölkerung, der in einer Situation lebt, die die Entwicklung zur Zivilisation zulässt.

Der Tanz des Lebens, einen Schritt vor, zwei Schritte zurück, ist anstrengend für jene, die zu schnell sind.

Und beschleunigt die Evolution der Zivilisation auf einer sehr langsamen und niedrigen Skala.

Ganz im Gegensatz zur Technik. Hab ich Moor’sches Gesetz gesagt? Noch nicht …

Wir haben also ein Spannungsfeld, das einem aufstrebendem Zivilisationswesen durchaus würdig wäre.

Wenn wir nicht den ersten Punkt (Zivilisation) streichen müssten.

Ausserdem könnten wir wissen, dass unsere Spezies am Besten funktioniert, wenn die Bedingungen nicht schlimmer sein könnten.

Blöd, aber die Primateninstinkte sind ja nicht verkehrt. Nur der Umstand, dass wir konsequent versuchen, diese zu leugnen. Und deswegen auch nicht lernen, wann und wie diese Instinkte ihre Berechtigung haben.

Und wann und wie diese Instinkte durch Zivilisationsvernunft gedämpft oder zum Schweigen gebracht werden müssen.

Wenn mich das Leben eines gelehrt hat, dann „Übung macht den Meister“.

Wir können nicht gut werden in etwas, das wir nicht üben.

Ich könnte jetzt sagen, die Conclusio ergibt sich aus dem Text. Ein typisches Primatenverhalten. Irgendjemanden finden, den man zum Sündenbock machen kann.

Conclusio

  • Wir befinden uns in einem extremen Spannungsfeld zwischen Technik und Zivilisationsentwicklung. Die Entwicklungsgeschwindigkeiten von Technik und Zivilisation stehen sich diametral gegenüber.
  • Wir vergessen oder ignorieren den Primaten in uns und haben daher keine Übung, diesen zu kultivieren und in Richtung Zivilisation (nur als Beispiel) zu entwickeln. Wir sind de facto unfähig für das selbst herbeigeführte und gegebene Spannungsfeld.
  • Evolution verläuft nicht gleichmässig, sondern in Sprüngen. Wir haben also die Möglichkeit, ganz schnell viel weiter in Richtung Zivilisation (sofern wir dies wünschen) zu kommen.
    Oder wir machen halt nochmal ein Wiederholung, Übung macht bekanntlich den Meister.

P.S.: Eine Wiederholung wird natürlich schwieriger, wenn das waffenstarrende Potential der jeweiligen Gattung die komplette Zerstörung der Mitwelt ermöglicht.

P.P.S.: Wenn das Bewusstsein (der Mehrheit), das Sein bestimmt, haben wir eigentlich schon verloren. Das Seltsame ist, dass dies genau die Situation ist, die wir wahrscheinlich brauchen, um zum zivilisierten Wesen zu werden.



Hinweis: Meine empirische Erfahrung und Einschätzung wissenschaftlich nachzuweisen überlasse ich anderen. Dies ist nur ein Denkanstoss …


Ein Hundeleben

Charles war jetzt 25, lange würde er es wohl nicht mehr, dachte er sich, als sein Herrchen an der Leine riss. Er hatte sein Geschäft noch nicht beendet, aber sein Herrchen war in Eile. Er versuchte sich den nackten Arsch am Gras der Wiese zu reinigen, indem er sich hinsetzte und erbarmungslos von seinem Herrchen weitergezogen wurde. Das scheuerte zumindest den gröbsten Dreck weg.

Sein Herrchen hatte ihn „Tag der Erkenntnis“ genannt. Zumindest schien das die Bedeutung der Pfeif- und Klicklaute zu sein, die sein Herrchen regelmässig ausstiess, wenn es nach ihm rief. Und die wie Fid’o klangen. Die Ironie entging ihm nicht. Und sein Herrchen war sich mit Sicherheit darüber bewusst.

An eine Dusche oder ein Klo mit weichem Klopapier konnte Charles sich kaum noch erinnern. Oder daran, sein Geschäft allein auf einem Klo verrichten zu können. Und der „Tag der Erkenntnis“ folgte erst zwei Jahre nach dem „Tag der Übernahme“.

Das die Menschen dieses Ereignis, den „Tag der Übernahme“, gar nicht wahrgenommen hatten, bestätigte nur die Dummheit der Menschen im Kollektiv. Auch diese Ironie entging Charles nicht. Schliesslich war er als Übersetzer tätig gewesen. Ein junger talentierter Sprach- und Musikwissenschaftler, der, an einer ehemals angesehenen Universität, den Doktorwürden entgegenstrebte.

Seine Ahnungen und Befürchtungen wurden von den politischen Führern der Menschheit, die damals in Verhandlungen mit den Mantodea, wie die Menschen sie nannten, da sie so sehr an Gottesanbeterinnen erinnerten, wie immer blasiert vom Tisch gewischt.

Wir wollen friedliche Koexistenz und einen Krieg können wir sowieso nicht gewinnen, waren die üblichsten Argumente. Und diese Argumente waren durchaus korrekt, daran war nicht zu zweifeln. Zudem gab es keine Möglichkeit zur Flucht. Die Menschheit hatte die Raumfahrt für kleinliche Streitereien um Ressourcen zu lange vernachlässigt. Sie wäre nicht fähig gewesen, noch nicht mal mit einer kleinen Gruppe, ins All zu flüchten.

Und sie hofften, dass die neuen Besucher vielleicht bei den Kleinigkeiten helfen könnten, die man als Kollektiv so angerichtet hatte. Wie die massive Klimaänderung, die ganzen Gifte, das ganze Plastik und die sich immer stärker ausbreitende steigende Radioaktivität, verursacht durch nicht mehr gewartete Kernkraftwerke, havarierte Atom-U-Boote, mit Uran angereicherte Munition und was es da so alles gab.

Dabei war es genau das, was die Mantodea angezogen hatte. Doch für solche sentimentalen Tagträumereien hatte Charles keine Zeit. Der Ruck an seiner Leine zeigte allzu deutlich, dass er wieder seine Pflicht vernachlässigt hatte, die Stimmungen seines Herrchens richtig zu deuten. Und er wollte nicht wieder am Nacken gepackt und durchgeschüttelt werden. Das Risiko eines vorzeitigen Todes war nicht von der Hand zu weisen.

Ein Mensch verträgt es nun mal schlechter als ein Hund, am Nacken gepackt und durchgeschüttelt zu werden. Wer Pech, oder auch Glück, so genau konnte man das nicht sagen, hatte, dem brachen die Halswirbel, so das er oder sie vom Hals abwärts gelähmt war. Jene Menschen hatten aber nicht lange zu leiden. Wie die Mantodea schon damals betonten, legten sie Wert auf „humanes“ Töten.

Ihre Desintegratoren verdampften ein Lebewesen bis zu Grösse eines Mantodea innerhalb von Bruchteilen einer Millisekunde. Die Nerven hatten noch nicht mal Zeit den Schmerz wahrzunehmen, bevor sie sich schon in ihre chemischen Bestandteile zerlegten. Welche, fein säuberlich getrennt, vom Sammler aufgefangen wurden, bevor sie sich in alle Winde verstreuen konnten.

Somit wurde eine nahezu hundertprozentige Verwertung der wertvollen Ressourcen sichergestellt. Ein Massstab, den viele Menschen seinerzeit auch an die Verwertung von getöteten Tieren und Pflanzen gestellt hatten. Wenn man schon ein Lebewesen tötet, sollte man es auch komplett verwerten. Und so wenigstens das Mindestmass an Respekt für dieses Leben zeigen.

Charles hüpfte sofort bei Fuss und versuchte sich so demütig wie möglich zu verhalten, während er vorsichtig, mit gesenktem Blick, die Situation zu erfassen versuchte. Mantodea waren so ungefähr vier Meter hoch, wenn sie sich nicht aufrichteten.

Sie waren ebenfalls Tracheenatmer, wie die Gattung auf der Erde, nach der die Menschen sie so leichtsinnig benannt hatten. Was bedeutete, dass dieser Planet noch nicht die Sauerstoffkonzentration aufwies, die ein Lebewesen dieser Grösse benötigte, um effektiv zu funktionieren. Man erkannte sofort die Pioniere, die es wagten, sich ohne Atmungshilfe, dem Klima dieses Planeten auszusetzen. Langsam, behäbig und fast faulttierhaft bewegten sie sich durch die Gegend.

Die Situation, die Charles immer noch nicht erfasst hatte, wurde ihm, nichtsdestotrotz, schneller bewusst, als ihm lieb war. Ohne eine Vorahnung befand sich Charles auf einmal zappelnd im festen Griff seines Herrchens, zwei Meter über dem Boden und wurde dann, mehrmals, in den Teich getaucht, an dem sie gerade vorbeiliefen.

Solange, bis der „widerliche Nackthund“, wie ihn sein Herrchen bezeichnete, vorzeigbar sauber war. Zumindest hatte er das Äquivalent einer Dusche gehabt. Auch wenn er nun frierend, zitternd und pudelnass neben seinem Herrchen stand und über die Absurdität von Respekt nachdachte. Dem betroffenen Lebewesen war der Respekt herzlich egal. Solange es noch lebte und eine Chance witterte.

Und Charles vermied, Dorothea, den Nackthund des anderen Mantodea, auch nur anzusehen. Die ihn ebenfalls ignorierte und sich auf ein zierlich anmutende Art und Weise versuchte zu putzen. Charles musste an Katzen denken. Und trotzdem immer wieder auf Dorotheas schwere Brüste schauen.

Im Allgemeinen mochten es die Mantodea nicht, wenn sich ihre Nackthunde zu nahe kamen. Insbesondere wenn sie ein unterschiedliches Geschlecht aufwiesen. Niemand wollte sich mit der Brut von Nackthunden abgeben. Dies blieb einigen Züchtern vorbehalten, die die Aufgabe hatten, einen begrenzten Vorrat an Nachwuchs bereitzustellen. Zumindest solange es bei den Mantodea Mode war, sich einen Nackthund zu halten. Einen Nutzen hatten die Menschen kaum für sie.

Es lief auf die gleiche Geschichte wie bei Menschen und Hunden heraus. Das Arschloch war immer am Ende der Leine. Und Hunde, wie auch jetzt Menschen, dienten nur dazu, die sozialen oder sexuellen Defizite ihrer Besitzer zu kompensieren. Und somit Verhaltensauffälligkeiten zu dämpfen, die in komplexen Zivilisationen eher störend waren. Und die Sozialstruktur der Mantodea war um Längen komplexer als die der Menschen, die gerade mal, so oberflächlich, den Primaten abgeschüttelt, oder besser gesagt, unterdrückt hatten.

Das Liebesleben der Mantodea war so komplex und unübersichtlich, dass Charles schon lange den Versuch aufgegeben hatte, auch nur wenigstens einen Bruchteil zu verstehen. Zumindest konnte er halbwegs die Geschlechter, von denen es mehrere gab, unterscheiden. Und, ob sein Herrchen, zu der betreffenden Person hingezogen oder von ihr abgestossen war. Auch wenn dies kaum offensichtlich wurde, wenn sein Herrchen mit seinesgleichen kommunizierte.

Allenfalls die nachträgliche Behandlung von Charles verriet ihm Hinweise. Wurde er, wenn sie wieder allein waren, freundlich behandelt, dann war sein Herrchen dem betreffenden Kommunikationspartner wohlwollend gesonnen. Im anderen Fall war es durchaus empfehlenswert, dass Charles sich, so gut wie möglich, verkroch und nicht weiter auffiel. Solange, bis die Schimpftiraden und das Wutgestampfe nachgelassen hatten.

Das Witzigste an allem war jedoch der Umstand, dass es Charles überhaupt nicht mehr stören sollte, wenn er pissen, scheissen und kopulieren in aller Öffentlichkeit vollzog. Seinerzeit war die Entwicklung der Technik soweit vorangeschritten, dass kein Mensch mehr ein unbeobachtetes Leben führte. Jeder Schritt wurde überwacht und die Narzissten dokumentierten sogar gern und bereitwillig jeden Kleinscheiss aus ihrem erbärmlichen Leben. Selfies, Parties, Essen, das Baby rülpst das erste Mal – alles wurde digital dokumentiert. Ob es jemanden interessierte oder auch nicht. Was dort noch fehlte wurde von den schlaflosen digitalen Assistenten aufgezeichnet und dokumentiert. Der Mensch war ein gläserner Mensch geworden und flüchtete sich dennoch in die Illusion einer Privatheit, die längst nicht mehr existierte.

Fünf oder zehn Jahre mochten ihm noch bleiben, bis er zu alt sein würde. Dann würde man ihn einschläfern, nein, desintegrieren und seine Bestandteile dem ewigen Kreislauf wieder hinzufügen. Zu alt, zu lahm, zu hässlich oder auch charakterlich zu verdorben vom Einfluss seines Herrchens oder wie auch immer die Bezeichnung für das jeweilige Geschlecht gewesen wäre.

Herrchen war einfach die richtige Bezeichnung. Kein Herr oder Herrscher über grössere Dinge, sondern nur ein kleiner Möchtegern-Herrscher über kleinere, wehrlose Dinge. Ein Arschloch, am Ende der Leine. Definitiv.

Das änderte natürlich nichts daran, dass Charles mittlerweile einen Ständer hatte. Die verstohlenen Blicke auf die Brüste von Dorothea wurden von seinem verräterischen Körper einfach in Taten umgesetzt. Auch Dorothea war dies aufgefallen. Das Glitzern in ihren Augen schien auch eher auf Wohlwollen, denn auf Unbehagen hinzudeuten.

Würde es möglich sein, den Akt halbwegs zu vollziehen, bevor sie getrennt oder auch desintegriert würden. Hatte er sich nicht in alten Zeiten gedacht, der schönste Tod wäre, beim Geschlechtsakt zu sterben? Was eine ziemlich egoistische Sicht der Dinge ist, wenn der andere Partner dabei nicht auch stirbt.

Die Tünche der menschlichen Zivilisation war noch nie besonders dick. Mittlerweile war sie hauchdünn. Und bevor Charles Vernunft auch nur irgend einen Vorschlag machen konnte, stürzte sich Charles Körper mit dem Gefühl „Ficken und wenn ich dabei untergehe“ auf Dorothea. Die, welch „Wunder“, dem gleichen Instinkt folgte. Das alte Rein-Raus-Spiel in Zeitraffer.

Zu seiner Bestürzung gaben ihre Herrchen nur Pfeif- und Klicklaute der Belustigung von sich, während er sich in Dorothea ergoss und den wogenden Busen an sich spürte.

Die Belustigung hielt jedoch nicht lange an. Schon wurde an den Leinen gezerrt und Charles erlebte sein zweites Bad für den heutigen Tag, nachdem er mit triefendem Schwanz aus Dorothea rausgezogen wurde.

Es würde also noch eine Weile dauern, bis er auf die Desintegration hoffen durfte …

Harald Lesch – der Heinz Rühmann unserer Zeit?

Ich mag ihn. Ehrlich. Seit ich Harald Lesch bei alpha centauri entdeckt habe (auch heute noch sehenswert), liebe und bewundere ich seine Leichtigkeit des Seins im Vermitteln von nicht gerade trivialem Wissen.

Genauso liebe ich Heinz Rühmann, nicht wegen der Qualitäten der Wissensvermittlung, sondern wegen der Qualitäten der Unterhaltung. Und nein, mit Theo Lingen oder Karl Valentin möchte ich Harald Lesch jetzt nicht vergleichen.

Beide Personen hinterlassen einen authentischen Eindruck.

Und beide Personen sind de facto Systemstabilisatoren. Auch wenn sie schwierige und unangenehme Themen begreifbar machen. Ob es ein Heinz Rühmann mit 12 oder irgendwieviel Kindern ist oder Harald Lesch mit Klima-Schnupper-Kennenlern-Kursen. Ja, man erkennt es. Und ja, man schaltet weiter.

Immer wenn der Herr Lesch sein Stammgebiet, die Astrophysik und Philosopie verlässt, ist es halt nur eine Meinung. Wie von vielen anderen. Kann man so sehen, muss man aber nicht.

Und eigentlich muss ich meiner Überschriftsthese schon hier widersprechen. Heinz Rühmann hat sich nie so exponiert, wie Harald Lesch. Womit wir eigentlich das Thema beenden könnten.

Wobei mir das den Lesch fast noch sympathischer macht, als den Rühmann. Immerhin ergreift er Partei.

Nein, stimmt auch nicht. Denn, wenn man bedenkt, dass jedes Schweigen auch Zustimmung bedeutet, hat auch Heinz Rühmann, so schlau er sich auch durchschlawinert hat, Position bezogen. Allerdings weniger offensichtlich. Ganz im machiavellischen Stil: Halte dir alle Optionen offen.

Eigentlich schreibe ich diesen Artikel nur, weil mich einiges an der durchaus interessanten Geschichte der Lüge und Täuschung gestört hat.

Nicht das ich bestreiten würde, dass auch ich manche, sagen wir ruhig viele, dieser Techniken erlernt habe und auch anwende, es geht mir eher ums Allgemeine.

Sein Trump-Bashing, hier in die Eröffnungssequenz gegossen, nervt etwas … Ronald Reagan war nicht einen Deut schlauer oder besser, vom Erdnussfarmer, der Bush-Dynastie, dem Blowjob-Präsidenten oder dem Friedensnobelpreisträger, der mehr Kriege in seiner Amtszeit geführt hat, als viele andere und zudem den Preis für ein uneingelöstes Versprechen erhalten hat, ganz zu schweigen.

Dann diese Geschichte mit den Detektoren. Hier hätte ich von einem Philosophen doch eine deutlich kritischere Haltung erwartet (… aber ist halt nicht Physik, wa Harry? Wie ich versucht wäre zu sagen, wenn ich diesen hervorragenden Geist persönlich kennen würde).

Actio = Reactio sollte auch Harald Lesch klar sein. Als Philosoph wäre es dann nicht unangemessen, auch zu fragen, was denn passiert, wenn wir Lügen anhand dieser oder jener Kriterien messen?

Gäbe es da vielleicht nicht eine, nur klitzekleine, Wahrscheinlichkeit, dass „professionelle Lügner“ sich diese Methoden für das Training nutzbar machen?

Und was ist mit Glaube? Kein Verzögerungszeiten, keine Unsicherheiten … ausser, dass keiner weiss, ob die Wahrheit des Gläubigen auch einen Relaitätskontext hat. Und wenn, ob dieser eine angemessene Prognose der zukünfigen Realität ermöglicht.

Klingt jetzt vielleicht hochgestochen, meint aber nur: Wenn du deine Situation nicht richtig einschätzt, sinken deine Überlebenschancen.

Okay, lassen wir das. Man hat sich seinerzeit mit Heinz Rühmann gut gefühlt, man fühlt sich heute mit Harald Lesch gut.

Katastrophal, aber alles nicht so schlimm.

Wir schaffen das?

Koinzident

„Hey Dave …“

„Ja?“

„Ich glaub die versuchen mein Taschenuniversum zu hacken …“

„Echt?“

„Ja!“

Martin war entsetzt und konsterniert. Es hatte ihn Stunden gekostet … nein, es hatte seine Maschine stundenlang beschäftigt, eine Übersetzung für dieses Dokument zu bekommen. Er hatte, natürlich, nur gewartet. Immer ungeduldiger. Immer aufgeregter. Und dann das:

„Tweaking of their spacetime metric“

Wow, das war doch genau das, wovon dieser Halbverrückte geredet hatte. Über das Problem mit Taschenuniversen.

Und Dave? Den schien das überhaupt nicht zu interessieren. Er war so unglaublich cool, wahrscheinlich wäre ein Eiszapfen vor Begeisterung neben ihm geschmolzen.

„Und? Ist das alles, was du dazu zu sagen hast? Dave?“

„Hmmm“

„Dave?“

„Hmmm … mmmh“

Und dann nahm mich Dave am Arm und flüsterte mir ins Ohr „Halt die Schnauze, du Idiot. Wir treffen uns an meinem Angelplatz, verstanden? Kein Wort mehr! Echt jetzt, K E I N W O R T M E H R!“

Die letzten Worte liefen mir wie das Zischeln einer Schlange über den Rücken. Doch so leicht war ich nicht einzuschüchtern.

„Wann? Umpfha …“

Der Ellenbogenstoss in die Nieren war nicht von schlechten Eltern.

„Entweder du merkst es oder nicht. Echt, Martin, verpiss dich doch einfach …“

Damit drehte Dave sich demonstrativ um und ging. Während mein Körper nach dem Punkt suchte, der den Schmerz verschwinden liess.

Möglicherweise bin ich ja ein Idiot, ein nutzloses Anhängsel, ein mehr oder weniger ertragbares Etwas, dachte Martin. Aber ich bin immer noch ich! Als die „Wer ist jetzt ich? Du? Echt jetzt? Chill deine Base. Hey Alter, schön mal was von dir zu hören …“ etc. p.p. Stimmen langsam verstummten, Dave schon ausser Sichtweite war und, überhaupt, alles sowieso und immer gerade den Bach runterging, verspürte Martin einen kleinen Impuls.

Nun, er war vielleicht blöd, aber so blöd auch wieder nicht. Er wusste schliesslich wo Dave seine Hütte hatte, seinen Angelplatz. Gar nicht so weit von hier.

Und das Dave verschwunden war, könnte ein weiterer Hinweis sein. Sofern er hier nicht irgendwo zu finden war, könnte es sich vielleicht lohnen, bei Dave vorbeizuschauen. Obwohl, dachte Martin, lohnen ist hier irgendwie das falsche Wort.

Möglicherweise lohnte es sich für Dave und seine Kumpel. Zumindest hatten sie jemanden, den sie verspotten und rumschubsen konnten. Ob es für Martin wirklich lohnend wäre, ja gut, ist es nicht schon Lohn genug, herumgeschubst zu werden? Man wird ja immerhin wahrgenommen, etwas, dessen sich nicht mehr viele Menschen rühmen können. Egal, wer will schon ohne Herde sein.

Also machte sich Martin auf den Weg. Schon als er sich der Hütte näherte, wurde sein Gefühl immer düsterer. Das summende Stimmengewirr, das aus der Hütte drang, fügte der Atmosphäre noch einen bedrohlichen Aspekt hinzu.

Wie ein aufgebrachter Bienenstock, dachte Martin. Um wenig später zu denken, ich habe noch nie einen aufgebrachten Bienenstock gesehen.

Vorsichtig klopfte er an und öffnete die Tür. Das Schweigen, das ihm wie ein Tsunami entgegenbrandete, nahm ihm die Luft zum Atmen. Einige Erstarrungsmillisekunden später, die wie Jahre anmuteten, meinte Dave lakonisch:

„Wenn es denn so sein soll …“

Martin war sich mehr als bewusst, dass er besser die Klappe halten sollte. Doch wie das so ist, gibt es einen Körper und einen Geist. Der manchmal meint, dem Kontrollgremium anzugehören.

Doch selbst die leidenschaftliche Bewegung, die sein Körper ausführte, um dem Mund Worte zu schenken, die den Geist auf das Äusserte irritiert hätten, wurde durch Dave’s erhobenen Zeigefinger gestoppt.

„Gemach, junger Freund! Die Aufmerksamkeit wird gleich bei dir liegen. Verlass dich darauf!“

Martins Leidenschaft verwandelte sich in ein windiges Achselzucken. War es nicht immer so? Anteilnahmslos rauschten die Wortfetzen an Martin vorbei. Gefangen im eigenen Selbst.

Es erstaunte ihn über alle Massen, als er spürte, wie Dave ihn rüttelte, verständnislos ansah und sagte:

„Hast du verstanden?“

„Häää …“

„Martin, hast du irgendetwas die letzten zehn Minuten mitbekommen?“

„Häää … äh … was … wieso?“

„Du bist unsere letzte Chance!“

Was? Wie? Warum war Martin, der nie wichtig war, auf einmal wichtig? Seine Konfusion steigerte sich ins fast Unermessliche.

„Warum immer ich?“ rief Martins Körper schneller als sein Geist folgen konnte.

„Martin … Martin … bitte … ganz ruhig. Und nein, es geht nicht um dich!“

Mehr brauchte Martin nicht zu hören. Mehr wollte er nicht hören. Das ganze Geschwafel. Sollten sie doch bleiben, wo der Pfeffer wächst. Dabei fiel Martin auf, dass er keine Ahnung hatte, wo der Pfeffer wuchs.

Dave schüttelte ihn, dass war das letzte an das sich Martin erinnern konnte. Naja, und daran, dass er gegangen war. Und dann …

Was Martin nicht wusste, war der Umstand, dass alle Taschenuniversen seiner Freunde bereits gehackt waren. Dass seine Freunde die Hoffnung hatten, mit Hilfe seines noch ungehackten Taschenuniversums eine Lösung zu finden.

Eine Hoffnung, die ehrlicherweise vergeblich war.

Weder Dave noch Martin merkten, dass das Universum ein anderes war.

Wie auch?

In diesem neuen Universum waren sie einfach nicht vorgesehen …


Warum Alles ist Nichts absolut Sinn macht.

Ansichten eines scheiternden Schöpfers

Zur Zeit versuche ich mich gerade daran, ein Partikel im Computer zu entwerfen, wobei ich mich einerseits an dem KISS-Prinzip orientiere. Keep it simple, stupid. Komplexität kommt von allein, einfach durch Interaktion.

Und andererseits mache ich mir Gedanken, wie ein Schöpfer, nicht ein Bewohner, dieses Universums, die Sache angehen würde.

Vom Kleinsten zum Grössten in Nullkommanix.

Denn dieses Ding mit den Partikeln oder Wellen oder was sie auch immer sein mögen, ist schon eine spannende Sache.

Wir glauben zu wissen, das e = mc2 ist. Ich bemühe mich jetzt nicht, dass in schöner Formelschreibweise mit dem richtigen Zeichensatz zu machen. Wenn also Energie gleich Masse ist. Klar, da ist noch ein Faktor dabei, die Geschwindigkeit, wie bekomme ich dann das Wunder hin, dass etwas gleichzeitig Masse und Energie ist?

Natürlich nur durch Schummeln, bzw. eigene Regeln festsetzen. Nur mal so ein Gedankenspiel:

Als Schöpfer möchte ich ein Universalteilchen, Partikel, Quant was auch immer bauen. Und ein Universum, in dem es existiert.

Das witzige ist, mit dieser Sache namens Informatik und den entsprechenden Geräten können wir das ja eigentlich schon. Wir machen es Tag für Tag, konsumieren Tag für Tag nicht existente Welten, warum nicht gleich was Richtiges? Ein kleines Taschenuniversum, vielleicht?

Ich schweife ab. Wenn ich also so ein Universalteilchen bauen möchte, könnte ich sozusagen das Nichts rotieren lassen und dann sagen, weil es rotiert entwickelt es eine Masse und Eigenschaften. Und, voila, aus dem Nichts entsteht ein Etwas. Aber nur solange es rotiert. In irgendeine Richtung auf den xyz Achsen.

Soweit, so einfach, relativ gesehen, an verschiedenen Formeln breche ich mir immer noch Hirn und Finger. Insbesondere was die Vereinfachung betrifft.

Ein Gedanke dabei ist, die Zeit rauszukürzen. Einfach indem ich sage, ein Rechenschritt bedeutet, dass alles in diesem virtuellen Universum einmal berechnet wurde, in seiner Wechselwirkung mit allem anderen. Das heisst, solange das Universum berechnet wird, vergeht für das Universum keine Zeit.

Damit lässt sich schon viel vereinfachen, e wird zu m, quasi. Es bleiben die geometrischen Probleme, das bewegen in einem Koordinatengitter, wie auch die einfachen Funktionen und Reaktionen zwischen den Universalteilchen. Aber das ist nicht der Punkt.

Wenn ich als Schöpfer so ein Universum auf dem Grundsatz von Parität entwerfen würde, dann würden auch bestimmte weitere Eigenschaften Sinn machen. Zum Beispiel die Eigenschaft, dass alles zusammengenommen, in diesem Universum immer 0 ergeben muss. Alles muss sich ausgleichen.

Wenn man dann darüber nachdenkt, ein Universum mit einer spiegelbildchen Komponente zu versehen, dann kann man Ungleichgewichte in einem Universum haben, ohne die Parität zu verletzen, da diese Ungleichgewichte ja im Spiegelbild zur Parität werden.

Und somit Alles zu Nichts wird, obwohl es immer mehr als die Summe seiner Teile wäre.

Das Witzige an diesem Gedanken ist noch, als Schöpfer könnte ich diesen paritätischen Grundgedanken als Kontrollmechanismus installieren und einen Rechenschritt stoppen, sollte je diese Regel gebrochen werden, z.B. weil das Universum vielleicht gehackt wurde.

Dieser Mechanismus würde dann dafür sorgen, dass der Schöpfer die Parität wiederherstellen kann, ohne dass ein Bewohner des Universums, so es ihn denn je gäbe, auch nur das Quäntchen einer Ahnung hätte.

Ach ja, man könnte dabei auch das Spiegelbild messen und auswerten, ohne das eigentliche Universum zu stören. Nicht das der Herr Heisenberg noch böse mit uns würde.

Insofern: Alles ist Nichts, Freunde der Nacht.

Die Konsequenz

Jason war Fleischer. In einem Betrieb, einem industriell geführtem Betrieb, um genau zu sein. Täglich kam lebendes Fleisch rein und verliess den Ort als totes Fleisch. Nichts Besonderes, soweit es Jason betraf. Er filettierte bestimmte Stücke und stand weit hinten in der Verwertungskette. Es war eher eine mechanische Arbeit. Industriell eben.

Dann, an diesem Freitag morgen, sollte sich alles verändern. Es war ja nicht so, dass er nicht auch schon von multiresitenten Keimen gehört hätte. Im Zusammenhang mit Krankenhäusern. Zumindest.

Und klar, jeder kannte ihn soweit. Immer die gleichen Leute, mit denen man über die Dauer der Zeit und der Wiederholung fast zwangsläufig ins Gespräch kam.

Was seltsam war, an jenem Morgen, dass alle sich abwandten. Die meisten blickten in eine Richtung, in der sie vorgeben konnten, ihn nicht gesehen zu haben. Alle waren sofort von ihm abgerückt, als er den Bus betrat. Die Situation überforderte Jason derart, dass er nicht in der Lage war, auch nur irgendwie zu reagieren. Selbst der übliche Gruss blieb ihm im Halse stecken.

Und nur eine Frage beschäftigte ihn: Was habe ich getan?

Soweit er wusste, war er gestern weder auf Sauftour mit komatöser Heimkehr gewesen, noch, dass er eine Auseinandersetzung mit irgendjemandem gehabt hätte. Es war ein ganz normaler Routinetag.

Grüsse und Nicken auf dem Weg zur Arbeit, Scherze und Flüche während der Arbeit, Grüsse und Nicken auf dem Weg nach Hause. Dann ein gemütliches Bierchen zischen, etwas an der Gamekonsole abhängen, bei nem Film chillen, der noch zwei Bierchen erforderte. Und Chips.

Das war’s. So weit, so banal.

Als er seinen Badge an den Kontrollpunkt des Fabrikeingangs hielt, meinte er fast, eine seltsame Stimmung zu erhaschen. Als ob sich seine Kollegen heimlich in die Fabrik reinschleichen wollten. Und da, wer war dieser Typ mit dieser Lederjacke, der einfach nur rumstand. Als ob er immer da rumgestanden hätte. Dabei hatte Jason ihn noch nie vorher bemerkt.

Der Morgennebel tat das Seinige, um der Situation den richtigen Anstrich zu geben.

Als Jason sich an seinem Spind fertig machte für die nächste Schicht wurde es noch schlimmer. Seine Kollegen waren quasi verstummt. Ein gemurmeltes Hallo, ein knappes Nicken, jeder schien seinen eigenen Gedanken nachzuhängen.

Dann die Schicht, ein Gemetzel, im wahrsten Sinne des Wortes. Nichts funktionierte so, wie es funktionieren sollte. Wie Jason gewohnt war, dass es so funktionierte. Jason war es gewohnt, dass Tierhälften ankamen. Von denen er die Filetstücke extrahierte. Das diese Tierhälften ihn anstarrten, blöckten, muhten, quiekten, davon war weder in seiner Stellenbeschreibung die Rede, noch war Jason dieser Situation gewachsen.

Ganz zu Schweigen davon, dass es sich nicht um Hälften handelte. Zumindest in den weniger verstörenden Anlieferungen.

Jason liess zwar alles Leben, oder sollte man vielleicht eher von Halbleben und Extremleiden sprechen, passieren. Wie auch viele seiner Kollegen, aber versuchte doch noch, dass ein oder andere Filetstück herauszuschneiden, wenn das Exemplar alle Kennzeichen von Tod aufwies.

Was hiess, weder zuckte es, noch schaute es einen an, noch machte es Geräusche.

Zugegeben, die Kriterien, die Jason, völlig gerechtfertigt, wenn man seinen Arbeitsvertrag berücksichtigte, anwandte, führten natürlich zu einer gewissen Tatenlosigkeit. Seinen Kollegen ging es da keineswegs anders.

Bis Abasin aufstand, ein eher schmächtiger Inder, dem man sein Talent nicht ansah.

„Es ist genug!“

Das war alles was er sagte. Dann ging er.

Alle waren wie gelähmt. Da verlässt einer gerade die Schicht und sagt nichts! Nichts ausser es wäre genug, für wen auch immer. Das war noch nie passiert. Zumindest noch nie in einer Schicht, die Jason gehabt hatte.

Kaum einer bemerkte das Stoppen des Fliessbands als Abasin wieder da war und auf weiterhin oraklehafte Art verkündete:

“ Wir können nicht mehr raus!“

Vereinzeltes Gelächter ertönte. Als der Blick am Fliessband hängenblieb, dass gestoppt hatte, als alle sich der plötzlichen Stille bewusste wurden. Sicher, es quickte, muhte und blöckte immer noch, aber das Fliessband, das saubere Geräusch des erbarmungslosen Todes, war verstummt. Diese Stille also.

Diese Stille und das stehende Fliessband agierten wie ein Schalter für alle, einschliesslich Jason und bewirkten ein völlig synchrones Balett von Hälsen, Mündern und Ohren.

Sicher wäre es kaum zu entziffern gewesen, rein akustisch. Aber jeder, ausnahmslos jeder, drehte sich zu Abasin um und meinte, irgendwie:

„Was hast du gesagt?“

Wenn Abasin die Kunst des Verschwindens beherrscht hätte, er hätte sie angewandt. Angeleuchtet von den Scheinwerfern der Augen seiner Kollegen, fast zitternd, wie ein verängstigtes Reh, wurde diesen Kollegen, wie auch Jason, bewusst, dass Abasin tatsächlich Angst hatte. Aber nicht vor ihnen.

„Wir können nicht mehr raus. Die Tore sind von aussen blockiert. Wir sind hier eingeschlossen!“

Für einen Moment übertönte das Geschnatter der Kollegen sogar das Muhen, Quieken und Blöcken.

Jason wandte sich an Karl neben ihm.

„Haben dich die Leute im Bus eigentlich auch geschnitten? Heute morgen?“

Ein kurzes Nicken, sonst kein Wort.

Verdammt, dachte Jason, was zum Teufel ist hier los?

Die Sirene und Betriebsdurchsage brachte auch keine Klarheit.

„Hier spricht die Betriebsleitung. Wir befinden uns derzeit in einem Belagerungszustand. Die Terroristen, die die Belagerung durchführen, haben uns zum Seuchen- und Quarantäne-Gebiet erklärt. Die Polizei ist informiert und bereitet eine Lösung vor.“

Es war mal wieder Abasin, der alle mit mehr Informationen beglückte, auch wenn diese Wortwahl in diesem Zusammenhang fast nur zynisch interpretiert werden kann.

„Es gab eine Sendung, keine Ahnung wo. Irgendwas von multiresistente Keime. Und das wir sie in uns haben. Wegen dem Antibiotika, was die Tiere bekommen. Und dann gab es nen Shitstorm auf Social Media. Überall. Und jetzt werden alle Schlachterei belagert. Aus deren Sicht müssen wir in Quarantäne bleiben. Was die Polizei und die Armee macht? Wer weiss das schon. Ich glaube, Freunde, wir sitzen in der Scheisse.“

Gedanken zu Menschen und KI

Wenn man nur annähernd von der Idee ausgeht, dass neuronale Netzwerke in Ansätzen Strukturen nachbilden, die in humanen Gehirnen oder, weiter gefasst, in diversen Lebensformen präsent sind, dann sollte man ein besonderes Augenmerk auf die Fehler richten.

Kurz gesagt: Shit in, Shit out

Entsprechend aller Erfahrungen, die wir bis jetzt gemacht haben (Schildkröte oder Waffen, googelt es doch selbst), kann man davon ausgehen, ganz allgemein, dass das Training eines neuronalen Netzes zu blinden Flecken, wie auch zu Fehlinterpretationen führt, die spezifisch mit dem Training zusammenhängen.

Wenn wir diesen Gedanken erweitern, wir befinden uns in einem Gedankenspiel, keiner mathematischen Beweislage, dass Training impliziert, anfällig für bestimmte blinde Flecken wie auch Fehlinterpretationen zu sein und wenn wir unterstellen, dass auch wir Menschen zu den Lebewesen gehören, die neuronale Netze in wesentlich höherer Komplexität benutzen, dann mag es möglich sein, dass auch unsere „Wirklichkeit“ blinde Flecken und Fehlinterpretationen enthält.

Soweit, so schrecklich.

Wenn mehrere verschiedene neuronale Netze komplex vernetzt sind, dann gibt es einerseits die Möglichkeit, dass diese Netze sich gegenseitig  kontrolllieren um Fehler zu nivellieren. Aber es ergibt sich auch die Möglichkeit des viel stärkeren Feedbacks, des Aufschaukelns eines Systems.

Und es gibt noch einen anderen schrecklichen Gedanken …

Wenn wir die Erfahrungen aus neuronalen Netzen auf unsere Konfiguration erweitern, dann bedeutet dies auch, möglicherweise, dass unsere Wirklichkeit nur vom Input geprägt ist, den wir erhalten haben. Dass diese Wirklichkeit möglicherweise ein funktionierendes Abbild der Realität in einer überschaubaren und bekannten Umgebung ist, aber keinesfalls ein tatsächliches Abbild der Realität.

Was, nur so nebenbei, viele Seltsamkeiten im Verhalten von Lebewesen erklären könnte. Wenn der Schwarzschildradius der eigenen Ereignishemissphäre nur auf wenige lokale Ereignisse und ihre Erkennung begrenzt ist, dann führt das dazu, dass man nur mit Lichtgeschwindigkeit diesen Horizont überwinden könnte. Wäre jetzt mal meine Annahme.

Noch so ein paar Splittergedanken.

KIs brauchen ihre Verarbeitungs- und Lernphasen mit Wiederholung.
Wir brauchen Schlaf – wo genau ist da der Unterschied?

KIs können nur das Erkennen, was sie gelernt haben.
Wir können nur das Erkennen, was wir gelernt haben, auch wenn es ungleich mehr und vielfältiger ist – wo genau, im Prinzip, ist da der Unterschied?

KIs tun sich schwer mit Diversität, wenn es Kategorien betrifft.
Wir tun uns schwer, wenn wir unser Verhalten ändern wollen – wo genau ist da der Unterschied?

Sicher, einerseits könnten diese Gedanken endlos fortgesetzt werden, andererseits bestehen durchaus gewaltige Unterschiede. KIs sind isolierte neuronale Netzwerke, während wir Lebewesen, die durch das evolutionäre Sieb gepresst wurden, erprobte Modelle von Zusammenarbeit zwischen verschiedenen Formen neuronaler Netzwerke sind.

Wenig verwunderlich, dass die Dichte der Neuronen rund um Verdauungsorgane dichter ist als in Gehirnen, so sie sich als nützlich erwiesen.

Klar, man kann es nicht vergleichen. Aber darum geht es doch nicht. Man kann auch nicht Äpfel mit Birnen vergleichen, sofern man sich in der Kategorie Äpfel oder Birnen bewegt. Bewegt man sich in der Kategorie Obst, dann zählen auf einmal andere Faktoren und ein Vergleichbarkeit ist gegeben.

Selbst wenn wir extrem optimistisch annehmen, dass unsere neuronalen Netze viel effektiver und optimierter sind, dann kommen wir trotzdem in die Verlegenheit, dass komplexe Systeme einfach anfälliger sind. Die Evolution mag durch Aussortieren eine Menge Mechanismen geschaffen haben, die einen Feedback verhindern.

Aber, mal ehrlich, wie gelang und gelingt es Wesen zu überleben, die fast oder überhaupt keine Ahnung von der Welt im Grossen und Ganzen haben, sondern nur ihr kleines, feines Umfeld soweit erkennen, dass ein Überleben möglich ist?

Deutet das nicht darauf hin, dass Wahrnehmung der Welt im Ganzen, vielleicht sogar Erkenntnis nur ein untergeordnete Rolle im Roulette des Lebens spielt?

Ich schweife ab, Erkenntnis mag hilfreich oder eine Bürde oder Beides sein. Und doch ist es mit dem Thema verwoben. Ich sprach gerade von Reichweite, und die mag sehr unterschiedlich sein.

Aber Erkenntnis an sich? Deutung der näheren und nahen Umwelt? Das ist ein Killerkriterium in diesem Spiel des Lebens. Neuronale Netze, wie wir sie so unvollkommen nachahmen, sind da ein wesentlicher Faktor.

Eine Möglichkeit zur Selbsterkenntnis,

Wenn man die Hybris mal kurz bei Seite lässt.

Im Anspruch denken – Das Zeitalter der Egozentrik

Immer wieder bin ich überrascht, wie stark wir (ja auch ich bin nicht frei von dieser Sünde) in Anspruchsdenken verfallen. Oft aus Gewohnheit heraus. Man ist gewohnt, auch das ungewöhnlichste Gemüse oder Südfrüchte jeden Tag im Supermarkt zu finden. Man entwickelt einen Anspruch.

Das merkt man dann, wenn irgendetwas einmal nicht da ist. Sehr oft regt man sich darüber auf. Das gleiche, wenn mal das Internet nicht geht, der Strom ausfällt oder der Partner nicht genau das gemacht hat,  was man erwartet hat. Was man für sich in Anspruch nimmt.

Dabei werden wir nackt geboren. Ohne irgendetwas. Hilflos, meist eher hässlich, aber dank Kindchenschema scheinen die Eltern genau das zu lieben. Was einem meist das Leben rettet. Wir haben das Glück gehabt, dass jemand uns gefüttert hat, die Windeln gewechselt hat, uns gezeigt hat, wie man dieses und jenes macht. Dabei hatten wir nie einen Anspruch darauf.

Wir haben nur Glück gehabt. Und freundliche Menschen, die sich um uns freiwillig gekümmert haben. Und nicht weil wir einen Anspruch darauf hätten.

Es scheint mir, wir sind es mittlerweile so gewöhnt, selbstverliebt zu sein und etwas, dass gegeben wurde, als Anspruch zu sehen, dass wir vergessen haben, dass zum Nehmen auch das Geben gehört. Und das es viel anspruchsvoller wäre, weitmöglichst anspruchlos zu sein. Frei von Erwartungen. In der Lage, das Leben so zu nehmen wie es ist. Und sich daran zu freuen, was ist. Anstatt zu bedauern, dass etwas nicht ist.

Allein, im Zeitalter der ständig eingeübten Egozentrik (Hit me hard, hit me quick, with your fucking Selfiestick), ein Zeitalter in dem der grosse Teil der Herde solchen Vergnügen frönt, ist es schwierig, gegen den Strom zu schwimmen. Kaum lässt die Aufmerksamkeit nach, schwimmt man schon wieder mit der Herde.

Wahrscheinlich muss das so sein. Bis es so ausgelutscht ist, wie Hollywood-Filme oder Werbung. Bis man einfach genug davon hat. Sich sozusagen ordentlich überfressen hat und dann wieder zu einem normalen Mass findet.

Allein, ich weiss es nicht. Aber schön, mal ehrlich, finde ich es auch nicht …

Götter …

Der Gott der Widerspenstigkeit
der … der tut mir jetzt schon leid
Wenn ich ihn einst werd‘ sehen
Wird ihm das Lachen wohl vergehen

Prometheus‘ Schicksal wird wie Urlaub ihm erscheinen
Wenn Faust und Zorn in seiner Fratze sich vereinen
Doch das wird nur ein Zeitvertreib
Ich rück ihm richtig auf den Leib

Was er auch anpackt, ich bin da
Versau es ihm, ganz wunderbar
Lass‘ nie nicht zu, dass ihm gelinge
Und bin dabei noch guter Dinge

Ein Sticheln hier, ein Scheitern da
Vielleicht wird ihm dann endlich klar
Wie es sich anfühlt all die Zeit
Wenn Widerspenstigkeit ihn stündlich freit

Was? Solch Gott hat’s nie gegeben?
Ach wart’s nur ab, dann wirst auch du’s erleben
Der Mensch, dass ist doch sonnenklar
Erschafft die Götter, macht sie wahr

Kein Gott würd‘ wandeln in der Welt
Wenn Mensch dem Gott nicht Treue hält
Wenn Glauben nicht den Gott erschafft
Und ihn erfüllt mit Menschenkraft

Ach nee, du glaubst es nicht, na und?
Vielleicht gab’s ja ’nen Götterschwund …
Drum schaff‘ ich mir, vermittels Leid
Den Gott der Widerspenstigkeit

Wenn du ihn siehst, wirst du’s erkennen
Du kannst ihn gern auch anders nennen

Freier Fall

Nun, er hatte Glück! Immerhin hatte er nicht, wie andere, darauf bestanden, dass er keine Kinder wöllte. Er meinte, lassen wir’s drauf ankommen, was ihm viel Ärger und Frust ersparte. Dafür jede Menge anderen Frust und Ärger einbrachte.

Ganz im Gegensatz zu den anderen Männern, die keine Kinder wollten, sie aber trotzdem bekamen. Und wenn Frau dazu auf die Samenbank gehen musste, um nachher den Vater in die Pflicht zu nehmen. Gegen biologische Imperative kämpft man nicht an! Das Leben war auch so schon kompliziert und enttäuschend genug. Frag Marvin, wenn du es nicht glaubst.

Dass dann diese Kinder da waren, half meist, es als Glück zu verklären. So wie das Glück von einem Güterzug frontal gerammt zu werden und es trotzdem zu überleben. Und was konnten die Kinder schon dafür? Keine Sorge, das Leben würde sich schon was Passendes ausdenken. Da konnte man sich, bei so einer unbeständigen Sache, wie dem Leben, sicher sein.

Leben? Ja, das war wohl der Gedanke, der ihn auf diesen Fenstersims gebracht hatte. Nein, er hatte nicht vor, dreimal so alt zu werden, wie das Universum, um dann, genau wie Marvin, sagen zu können: Leben? Erzähl mir nichts vom Leben …

Es würde heute enden, so oder so! Nicht das es eine Rolle gespielt hätte. Eigentlich war er doch schon seit Ewigkeiten so tot, wie Hot Black Desiato, nur nicht aus steuerlichen Gründen. Und Gründe sich zu beklagen hatte er sowieso nicht. Wie käme er dazu? Beklagt sich ein Surfer, wenn ihn die Welle erwischt?

Nun gut, ja, die meisten beklagen sich.

Aber ein Surfer im Herzen? Nie!

Ausser, wenn es keiner sieht!

Gnädiger gestimmte Menschen machten dann das Schicksal oder irgendwelche Götter verantwortlich. Weniger gnädige Personen, die Sorte, die, die man zuhauf an jeder Ecke trifft, machen eher andere Personen oder Dinge verantwortlich. Was vielleicht erklärte, warum so viele Leute mit vollem Bauch und Dach über dem Kopf tatsächlich meinten unglücklich zu sein.

Es gab natürlich eine Theorie, die besagte, dass man solche Probleme eigentlich nur mit vollem Bauch und Dach über dem Kopf hätte. Aber wie die meisten Theorien, war auch diese Theorie nur annähernd richtig, auch wenn der kausale Zusammenhang nicht gänzlich konstruiert war.

Das es eigentlich keine kausale Zusammenhänge gab, war nur eine Nebensächlichkeit, die dem Menschen nicht bewusst war. Nicht bewusst werden konnte, was aus der Tatsache resultierte, dass diese Lebensform auf einem Betriebssystem lief, dessen Treibstoff Kausalität war. Egal, ob es sie gab!

Alles musste einen Grund haben. Musste! Und wenn es einen Grund geben musste, gab es den auch. So einfach, so erheiternd!

Wollte er jemanden verantwortlich machen? Nein! Gewiss nicht. Naja, ein bisschen vielleicht. Eigentlich ganz entschieden!

Und das wäre ja, sogar gemäss der Meinung der Mehrheit, völlig im Einklang mit dem allgemeinen Verständnis von Leben gewesen. Das Dumme war nur, der einzige, der ihm einfiel, den er verantwortlich machen konnte, war unbestreitbar er selbst!

Was spielte das schon für eine Rolle, dass er seine Kinder aufgefordert hatte, ihn fertig zu machen, damit er einen Grund hätte, seine persönliche Misere endlich zu beenden. Er hatte sie schliesslich aufgefordert und sie hatten diesen Job sehr ernst genommen. Mehr kann man sich doch nicht von seinen Kindern erwarten? Zumindest in einem ironiefreiem Leben, in dem man alles wörtlich nimmt.

In einem kurzen Anfall von Verzweiflung hatte er daran gedacht, die Kinder mitzunehmen, den ganzen langen kurzen Flug. Natürlich nur am Telefon. Am besten über Skype. Oder Youtube. Damit die Gaffer auch auf ihre Kosten kämen. Aber nein, das betraf nur ihn und diese Personen waren nur zufällig seine Kinder. Was hatten sie schon damit zu tun, dass er da war, wo er war?

Natürlich alles!

Aber das spielte keine Rolle. Im Endeffekt hatte er das gemacht, was er gemacht hatte und sich nie anders entschieden. Möglicherweise aus diesem Zwang heraus, einen Grund zu finden. Weil die Kinder da waren, musste er arbeiten. Weil er auch noch die Schulden aus der Ehe übernahm und Unterhalt leisten musste, musste er noch mehr arbeiten. Weil die Kinder auf einmal hunderte von Kilometern entfernt waren, arbeitete er noch mehr und so weiter und so fort, der ganze typische „Ich seh da einen Zusammenhang“ Kram halt.

Dabei war es seine Entscheidung die Verantwortung zu übernehmen. Auch wenn ihn niemand, ausser er selbst, darum gebeten hatte. Naja, seine Frau oder sollte er Frauen sagen, ja, Frauen klang besser und war korrekter, hatten gefordert und gewollt. Ausser wenn sie mal nicht gewollt hatten. Meist wenn er wollte. Da kann man doch nicht wirklich davon reden, dass er gebeten wurde. Und dass die Kinder ihm die Schuld gaben, dass die Frau auf einmal hunderte von Kilometern zwischen ihn und die Kinder brachte, je nu, war ja klar. Wer sollte denn sonst Schuld sein? Die unangreifbare, unfehlbare Mutter etwa?

Wage es nicht uns die Schuld zu geben hiess es. Wie der Polizist, der ihn nicht durchlassen wollte, weil da eine Veranstaltung war. Und die Begründung, dass er aber dort wohnte, so sehr mochte, dass er ihm herzzerreissend die Scheisse aus dem Leib prügelte. Und dabei immer schrie: „Geben sie nicht mir die Schuld! Sie haben doch damit angefangen!“. Wenigsten hatte der Polizist nicht auch noch gedroht, sondern eher höflich gebeten. Auf seine Art. Mit Worten zumindest. Was konnte er schon dafür, dass seine Taten so anders ausfielen.

Dabei ging es ihm gar nicht darum, irgendjemandem die Schuld zu geben, sondern nur zu erklären, warum er im Bezug auf Weihnachtsgeschenke nicht in der Stimmung gewesen war. Nicht in der Lage war, viel zu schreiben oder gar anständige Geschenke zu liefern. In Sachen Erwartungen, da kannten seine Kinder kein Halten. Da waren sie Profis. Da waren sie in vertrautem Gelände. Das konnten sie.

Und alles nur, weil die Kinder sich beschwerten. Über die Geschenke. Natürlich. Und über ihre wiedermal enttäuschten Erwartungen. Allerdings hatten sie davon so viele, dass es eher schwer war, irgendwen irgendwie mal ausnahmsweise nicht zu enttäuschen.

Von allein hätte er mit diesem Thema gar nicht angefangen, das ihm dann um die Ohren gehauen wurde. Aber dieses selbstmitleidige, erwartungsenttäuschte „Das musste jetzt mal raus!“ hatte ihn zu einer Gegenreaktion getrieben. Auch bei ihm musste mal einiges raus.

Nicht das es seine Kinder interessierte, wie es ihm ging. Was da mal raus musste. Ausser es war lustig, fröhlich, unverbindlich. Sie hatten ja schon sein Testament als Angriff gewertet. Als ob es so unnormal wäre, in höherem Alter auch mal darüber nachzudenken, was wäre, wenn ihm irgendetwas zustossen würde. Insbesondere wenn man ständig unterwegs war. Auf die Dauer der Zeit steigt nun mal die Wahrscheinlichkeit für Unfälle.

Nein, jedes Anzeichen von Nichtfröhlichkeit war ein Affront. War ein Sturmangriff auf ihre Erwartungen, jetzt doch bitte bedient zu werden, jetzt doch bitte das zu bekommen, was sie sich wünschten. Es reichte doch wirklich, dass ihnen schon die Welt verweigerte, ihre Erwartungen zu erfüllen. Da war es doch nur recht und billig, dass wenigstens er ihre Erwartungen erfüllte.

Und bis zu einem gewissen Alter fand er das auch völlig okay. Schliesslich machte man das doch so. Den Kinder erzählen, dass alles nicht so schlimm ist, während man innerlich verreckt. Das alles wieder gut wird, während man nicht schlafen kann und nicht weiss, wie es weitergehen soll. Das macht man doch so.

Aber bei erwachsene Personen? Mit eigenen Kindern, die langsam in die Pubertät kommen? Er fragte sich immer noch, wann er diesen Vertrag mit Blut unterschrieben hatte? Ach nee, genau, es war kein Blut gewesen. Es war Sperma! Die Geheimtinte. Alles klar.

Hätte er sich ja eigentlich gleich denken können. Ha, denken, er war sich ja noch nicht mal sicher, ob er überhaupt denken konnte. Nachher denken, ging immer gut. Oh nein! Hätte ich doch nur! Wenn ich das gewusst hätte! Das funktionierte prima. Das mit dem vorher denken, das war das Problem.

Das Konzept einer Drohung schienen sie auch nicht verstanden zu haben. Oder er hatte es nicht verstanden. Wer weiss das schon. Sie hatten sich beschwert, er hatte versucht es zu erklären. Dummerweise keine fröhliche Sache. Dummerweise vermintes Gebiet. Aber eine Drohung? Wo hatte er verdammt noch mal damit gedroht? Er hatte erwähnt das es ihm schlecht ging, worauf ganze Engelschöre „Selbstmitleid, Selbstmitleid, Selbstmitleid“ anstimmten.

Er hatte erwähnt, dass er weiterkämpft. War das die Drohung? Sollte er endlich konsequent mit kämpfen aufhören? So hatte er das bis jetzt noch nie gesehen. Klar, seine Gegenwart, auch wenn weit entfernt, weiter ertragen zu müssen, Schuldgefühle zu haben, weil man keine Zeit und keine Lust hatte, sich um den Vater zu kümmern, logisch, wenn er dann weiterkämpfte, dann war das eine handfeste Drohung.

Das Gute war, dass sie damit seinen Trotz geweckt hatten. Sonst hätte er sie auf die Brücke mitgenommen. Doch wenn sie das mit aller Macht versuchten, ihn genau dahin zu bekommen, dann … dann erstmal nicht. Nicht mit mir. Und so erst recht nicht. Sein ganzes Leben hatte er sich dieser Welt abgetrotzt. Da kannte er sich aus. Da war er auf vertrautem Terrain.

Überrascht entdeckte er, dass er ein wandelnder Widerspruch war. Egal was jemand sagte, er fand ein Position die der geäusserten diametral gegenüber stand. Ich mag das nicht – ach es hat doch auch seine schönen Seiten. Ich mag das – naja, wo Licht ist, ist auch Schatten. So etwas in der Art. Aber auch das spielte jetzt keine Rolle mehr. Selbst am Trotz und Widerspruch hatte er mittlerweile den Spass verloren.

Kurz danach dachte er noch daran, seine Kinder zu enterben. Schrieb es auf. Zerriss es wieder. Was, in Gottes Namen, konnte er schon vererben? Da war nichts mehr von Wert. Und sein Leben? Keinen Pfifferling war es wert.

Wieso stand er jetzt eigentlich hier? Auf dem Fenstersims? Und fror? Und dachte? Dieses Danachdenken. Es wurde Zeit für einen Schlussstrich. Oft, wenn er glaubte, er könne nicht mehr, hatte er sich mit den Gedanken an seine Kinder getröstet. Halt gefunden. Einen Grund. Einen beschissenen, verdammten, idealisierten Grund.

Worte, ja, Gelaber ja, da waren seine Kinder Meister, wie er selbst. Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm. Klar doch, du bist immer willkommen. Und so. Reine Lippenbekenntnisse. Als er zufällig noch dachte, weil er in der Nähe war, sich bei einem seiner Kinder zu melden, wäre eine tolle Idee, kam nur ein vorwurfsvolles „Was willst du denn hier?“. Er hatte sich aus dem Staub gemacht, bevor noch mehr dieser liebevollen Wörter sein Ohr erreichen konnte.

Einen Abschluss, er musste einen Abschluss finden. Die Sache ging schon viel zu lange und, um es mit Marvin zu sagen, er hatte immer noch diese schrecklichen Schmerzen in der linken Diode.

Deswegen war er hier. Um das alles hinter sich zu lassen. Um dem Trotz zu trotzen. Der ultimative Trotz sozusagen. Wie sollte er sich noch mit Kindern trösten, die einen alten kaputten Mann eher in den Tod trieben als ihm vielleicht mal zu sagen, ist alles nicht so schlimm? Wird schon wieder. Sie waren ja schliesslich nicht seine Eltern. Der Job war nur für die eigenen Kinder bestimmt.

Nein, in solchen Kindern konnte er keinen Trost mehr finden und für alles andere war es nun auch zu spät. Es ist ja nicht so, dass das Alter mit Lebenskraft und Gesundheit einhergeht. Eher entzieht das Alter dir genau diese Sachen.

Genug gedacht, in einem anderen Leben würde er ihnen vielleicht verzeihen können, aber vergessen? Nein, vergessen würde er nie. Ausser er sprang jetzt endlich. Wenn nicht, würde er noch zum Ritter von der traurigen Gestalt. Und Aufmerksamkeit erregen. Doch an dieser Sorte Aufmerksamkeit lag ihm nichts. Die andere Sorte jedoch gab es nicht. Nicht für ihn … also sprang er.

Noch im Fall kam ihm der Gedanke, habe ich da nicht etwas vergessen. Doch, zu spät. Er fiel und die Zeit dehnte sich ins Unermessliche. So ein Schmarrn, dachte er, dass sich das Leben nochmal vor einem abspult, wenn es soweit ist. Alles nur Blödsinn made in Hollywood. Entweder denkt man „Scheisse, ich falle, ich ertrinke, ich … irgendwas“ oder man denkt „War da nicht noch was?“. Und dann ist es schon rum.

Weich landete er auf dem Rasen vor dem Fenstersims. Des Fensters im Erdgeschoss. Die Nachbarn schauten immer noch etwas komisch. Aber er war glücklich. Er hatte es einfach tun müssen. Diesen symbolischen Sprung in ein neues Leben. Das alte hatte er hinter sich gelassen. Es war ihm egal. Es war Geschichte.

Das neue Leben hatte eben erst begonnen!

(Zu Marvin und Hot Black Desiato befrage man den „Anhalter durch die Galaxis“ – ein Buch, auf dem mit freundlichen Worten KEINE PANIK steht.)