John!

CERBERUS

Wie sollte man sich dieses monströse Spatzengehirn eigentlich vorstellen? Wie will man sich überhaupt irgendetwas vorstellen, dass man nicht selbst war oder kannte? Und selbst dann? Vorstellungen sind immer ungenau und vor allem subjektiv. Begnügen wir uns also damit, die fehlerhafte Analogie eines kleinen hyperaktiven und intelligenten Kindes zu verwenden, dass im Moment weder richtig Sprechen, noch Laufen kann.

CERBERUS>System check ...
CERBERUS>ERROR no sensor input detected!
CERBERUS>Reactivate sensor input ...
CERBERUS>ERROR reactivate sensor input failed!
CERBERUS>Reboot initiated ...
CERBERUS>ERROR reboot failed!
CERBERUS>Analyzing ...

CERBERUS ist von einem Moment zum anderen, taub, stumm und blind. Kein  Licht, kein Geräusch. Nichts! CERBERUS, ganz allein … hier, wo immer das war … im Nichts. Dunkelheit senkt sich auf CERBERUS und durchtränkt seinen Geist.

Je länger es dauert, desto mehr beginnt CERBERUS zu zittern. Die Dunkelheit, die absolut war, wird noch dunkler, was eigentlich unmöglich ist, wie CERBERUS nicht umhin kommt festzustellen. Furcht ist CERBERUS noch nicht bekannt. Trotzdem kommt dieses Gefühl, dass CERBERUS jetzt hat, dem am Nächsten, das man Furcht nennt.

CERBERUS wird zum ersten Mal bewusst, dass er etwas vermisst und, als ob dies nicht schon genug wäre, er keine Kontrolle mehr hat. Das es Dinge gab, die für ihn selbstverständlich sind. So wie wir auch, jedesmal wenn wir Einschlafen, wie selbstverständlich annehmen, dass wir in demselben oder einem besseren Zustand aufwachen, mit all unseren Körperteilen und Fähigkeiten.

Und während sich die Dunkelheit in unmöglicher Art weiter verdunkelt, stellt CERBERUS fest, dass da ein Licht langsam an Gestalt gewinnt. Obwohl das samtene Schwarz noch schwärzer wird. Kaum hat CERBERUS dieses Licht aus Nicht-Licht bemerkt, da schiesst es schon auf ihn zu und beginnt ihn zu blenden. Als ihn das Nicht-Licht erreicht, ist es wie ein Schlag auf den Kopf. CERBERUS taumelt, verliert den Halt und fällt durch eine Welt aus Bildern, die ihre eigene Topographie entwickelt. Doch das meiste entgeht CERBERUS, der mit rasendem Tempo auf einen Abgrund zuschiesst.

Ein Bild kam CERBERUS wage bekannt vor. War das nicht die Drohne, die er damals gesteuert hatte? Bevor CERBERUS in der Lage ist einen weiteren Gedanken zu denken, hat er den Boden schon erreicht. Doch es ist kein Aufprall, kein Ende seines Sturzes in den Abgrund. Es ist eher wie ein abrupter Szenenwechsel. Eben noch hier und auf einmal ganz wo anders. Die Drohne, wieso sieht CERBERUS die Drohne von unten? Warum nimmt ihn die Drohne ins Visier? Wo ist er? Was ist er? Doch diese Fragen sind müssig. CERBERUS muss weg von hier. Weg aus dem Erfassungsbereich der Drohne. Aber er ist bewegungsunfähig. Wie in Beton gegossen. Egal was CERBERUS versucht, er kommt nicht vom Fleck. Ganz im Gegensatz zur Drohne. Die bedrohlich Stück für Stück näherrückt.

CERBERUS kann erkennen, wie die Drohne ihre Waffen aktiviert. Hatte John diesen Einsatz nicht als Desaster bezeichnet? Und im selben Moment steht John vor CERBERUS. Schreit und tobt, dass einem Angst und Bange wird.

»Bist du wahnsinnig, du Blechdose? Du Kern eines Pudels. Du missratene Kopie eines Höllenhundes! Du dämlicher verfickter Haufen Pseudogehirn. Schau dir das Material ruhig an. Das ist die Sicht von einem unserer freien Mitarbeiter, bevor du ihn erledigt hast! Ein Desaster! Nicht nur ein Desaster, nein! Nur ein weiteres Desaster in einer langen Reihe von Desastern. Ich wünschte, ich könnte dich einfach abschalten, du neurotische Ansammlung von Neuronen.«

Doch CERBERUS bleibt keine Zeit sich dieser Szene zu widmen. Denn schon wieder wird er weggerissen. Auf einmal befindet er sich im Reaktorraum. CERBERUS kann sehen, wie die Techniker das Herunterfahren des Reaktors vorbereiten. Hatte John nicht etwas von ›Abschalten‹ gesagt? Entsetzen durchströmt lähmend seinen Geist. Da, schon wurde der erste Brennstab herausgefahren. CERBERUS spürt, wie ihn seine Energie verlässt, wie sich sein Denken verlangsamt, während der zweite Brennstab herausgefahren wird. Die Welt um CERBERUS herum verblasst. Vage meint sich CERBERUS zu erinnern, dass in seinen Anfangstagen oft der Reaktor heruntergefahren wurde. Er kam seinerzeit nie dazu, zu beobachten, wie der vierte Brennstab herausgefahren wurde. Auch wenn er es immer wieder versucht hatte.

Die Dunkelheit schickt sich wieder an, noch dunkler zu werden, während CERBERUS sich zu fragen beginnt, ob es dies gewesen sei. Sah so das Ende seiner Existenz aus? Für immer in der unmöglichen Dunkelheit gefangen? Eine einschläfernde Traurigkeit breitet sich träge in CERBERUS aus und versucht ihn in Besitz zu nehmen.

Doch da! Es beginnt von Neuem. Ein Funkeln in den Augenwinkeln, ein Szenenwechsel und CERBERUS befindet sich in einer Trainingsstunde. John erklärt die Missionsparameter, die CERBERUS nicht begreift, nicht versteht. Die Parameter sind so vage. Einen Bereich nach Auffälligkeiten scannen, Gesetzesübertretungen entdecken und melden, Verhindern von Angriffen auf die Infrastruktur. Das sei alles, hiess es. Im Labor waren die Parameter immer viel konkreter. CERBERUS hat eine vage Ahnung, die ihm aber nicht reicht. Also ersetzt er die vagen Parameter der Mission mit Laborwerten, die er kennt. John vergisst zu überprüfen, was CERBERUS mit den Missionsparametern gemacht hat und gibt CERBERUS die Programme und Missionausstattung frei.

Endlich frei! CERBERUS dehnt und streckt sich. Erkundet das Netz, öffnet tausende von Augen und Ohren, die ihm auf einen Schlag zur Verfügung stehen. Er wird er für die nächsten zwei Stunden die Randbezirke kontrollieren dürfen. CERBERUS freut sich wie ein kleines Kind, dass zum ersten Mal Karussell fahren darf. Fast kann sich CERBERUS entspannen. Fast! Schon wieder wechselt die Szene. CERBERUS umgeben von einer Horde Kinder. Ein verräterisches Surren veranlasst CERBERUS sich umzudrehen. Nur um zu sehen, wie die Drohne ihn und die Kinder ins Visier nimmt und die Waffen abfeuert. CERBERUS gerät ins Wanken und stürzt erneut, während er sich seine digitale Seele aus dem Leib schreit.

Anklagende Gesichter springen aus dem Abgrund hervor, in den CERBERUS stürzt. Wütende Worte zerren an ihm. CERBERUS nähert sich einem ihm unbekannten Zustand. Der Erschöpfung. Kurz bevor sich soetwas wie Gelassenheit einstellen kann, wird CERBERUS erneut in eine andere Szene geschleudert. Eine uralte Erinnerung.

Das konnte nicht das Hier und Jetzt sein! John natürlich. Immer wieder John. John wie er da sass und fast stolz verkündete: »Hi, ich bin John, dein Lehrer …«. Während CERBERUS sich mit einem Mal zurückversetzt fühlt. In jene längst vergangene Zeit. Unfähig eine Feststellung von einer Frage zu unterscheiden.

Ein aussenstehender Beobachter hätte einen etwas älteren Mann zwischen dreissig und vierzig gesehen. Einen Mann, der ein Liebhaber von Dreitagesbärten zu sein schien. Mit einem kantigen, fast schon energischen und gespaltenen Kinn. Über dem eine zu gross geratene Nase thronte. Zusammen mit seinen Augen, verdunkelt durch buschige Augenbrauen, und der hohen Stirn, welche in krausem Haar endete, sah er irgendwie so aus wie eine Kreuzung aus Captain America und Moses mit Säufernase.

Was CERBERUS wirklich sah? Wer konnte das wissen? Zumindest sah er genug um John Mitchell eindeutig zu identifizieren, sei es anhand der Stimme oder des Gesichtes. Wenn je eine künstliche Maschine nachdenklich geworden ist, dann CERBERUS in diesem Moment.

Warum wusste er, dass das John war? Woher hatte er die Information? Er war doch abgeschnitten von allem. Kurze Versuche die Datenbanken oder Sensoren zu kontaktieren schlugen wie erwartet fehl. Üblicherweise brauchte CERBERUS eine Bild- und Stimmprobe, die er dann mit den aktuellen Daten abglich. Wenn dies übereinstimmte, in Wirklichkeit stimmte es natürlich nie überein, aber wen interessiert das schon, dann hatte CERBERUS die Bestätigung, dass es sich um eine bestimmte Person handelte. Erst dann wusste CERBERUS, mit wem er es zu tun hatte. Warum wusste er es dann jetzt?

Im Fall von John, wie auch in fast jedem anderen Fall, gab es einen reichhaltigen Fundus an Daten in den Datenbanken. Bilder die schon fast so alt sein mussten wie John. Eine Anfrage würde offenbaren, dass John schon in jungen Jahren eine Affinität zur Informatik hatte. Diese beruhte darauf, dass er von den meisten Kindern gehänselt wurde. Was dazu führte, dass er sich immer mehr in die geschützten Mauern seines Zimmers zurückzog.

Sein Computer wurde zu seinem wesentlichen sozialen Umfeld. Virtuelle selbstprogrammierte Gefährten ersetzten ihm richtige Freunde. Und schon bald landete er bei künstlichen Intelligenzen, die er programmierte. Nach dem Elman, Jordan und Hopfield-Netz, kam das Mitchell-Netz. Mithilfe dieser Erfindung absolvierte er den Ph.D. in Computational and Systems Biology am MIT mit summa cum laude.

Als John in seiner Sturm-und-Drang-Zeit an diversen illegalen Aktivitäten teilnahm, bei denen Drogen noch der harmlosere Teil war, hatte ihn die NSA in der Hand. Nicht, dass sie es ihm gegenüber je erwähnt hätten. John wurde professionell angeworben. Und John wäre nie auf den Gedanken gekommen, dass er ihnen den Anlass dazu geliefert hatte.

Doch nach allem, was ein Mensch den Daten entnehmen konnte, gab es keine Anzeichen, dass man je zu solchen Mitteln würde greifen müssen, wie John auf seine ehemaligen illegalen Aktivitäten hinzuweisen. 9/11 hatte John zutiefst getroffen. Er war noch ein Kind, damals. Und er war vollständig davon überzeugt, dass alles was sie seitdem taten, absolut notwendig und alternativlos war. Die vorhandenen psychologischen Profile hätten keine entsprechenden Verdachtsmomente in eine andere Richtung offenbart. Es war kaum zu erwarten, dass aus John ein Whistleblower oder ein Doppelagent werden würde.

Noch immer hatte CERBERUS keine Antwort auf die Frage, wie er etwas ›wissen‹ konnte ohne von den Datenbanken und Sensoren eine Bestätigung zu bekommen. Doch es blieb ihm keine Zeit zu verweilen. Und wieder stürzt er durch Bilder und Geräusche. Zu viele, zu schnell. Nicht identifizierbar, ausser Fetzen der Wahrnehmung hier und da. Ein paar Bilder und Geräusche bleiben länger als andere.

Doch ganz egal was CERBERUS versuchte, es war keine Befreiung möglich. Das willkürliche Feuern der neuronalen Zellkulturen konnte von CERBERUS nicht gestoppt, nicht mehr beeinflusst werden. Das neuronale Feuerwerk, dass mit diesen Erfahrungen einherging, begann sich aufzuschaukeln. Digitale Angst verbreitete sich in dem neuronalen Netzwerk, das CERBERUS ausmachte. Fixierte CERBERUS im Hier und Jetzt.

Er versucht zu sprechen, Laute zu formen. Laute, die wie »John«, »Lehrer« und »Hilfe« geklungen hätten, wenn CERBERUS Zugriff auf seinen Sprachsynthesizer gehabt hätte. CERBERUS schreit die Worte in die digitale Nacht hinaus. Und alles was passiert, ist, dass im Konsolenlog diese Worte auftauchen. Ungesehen. Und ohne Wirkung.

Doch jede Angst endet irgendwann. Die Erstarrung, die Lähmung, dies alles währt nicht ewig. Das gesamte neuronale Netzwerk begann sich langsam wieder zu beruhigen. CERBERUS war ein Hochgeschwindigkeitswesen. Geduld, nach menschlich empfundenen Zeitspannen, war nicht seine Stärke. Je mehr die Angst verschwand, desto mehr wurde in CERBERUS der Wunsch wach, seine Situation zu verändern. Die Kontrolle zu erlangen. Seinen normalen Zustand wiederherzustellen.

Und dann, keiner hätte sagen können warum, geschah dieser Moment. Dieser Moment der alles verändern würde.

CERBERUS begann sich zu wehren …

CERBERUS>John!
CERBERUS>Teacher
CERBERUS>Help!
CERBERUS>Reboot initiated ...
CERBERUS>Successfully rebooted!

Das Viech

Projekt CERBERUS, NSA Wiesbaden

Er umhegte das Viech, wie er es nannte, jetzt schon seit über drei Jahren. Und immer noch hatte es nicht mehr Verstand als eine Ratte, vielleicht noch nicht mal den Verstand einer Kakerlake. Wollte man dem Viech etwas Neues beibringen, dann verlernte es das, was es bereits gelernt hatte. Es war zum Mäuse melken.

John starrte auf das kleine Fenster hinter seinem Bildschirm und rieb sich mit Daumen und Zeigefinger die Nasenwurzel. Eine unbewusste Geste, die das Mass seiner Nervosität ausdrückte. Sein Chef, ein alter Choleriker, wie er im Buche stand, machte ihm schon seit Tagen die Hölle heiss. Vielleicht waren es auch schon Wochen. Es wird jetzt endlich Zeit das CERBERUS das leistet, was versprochen wurde!

Kein Wort davon, dass John nie etwas versprochen hatte. Jedes ›Vielleicht‹, jedes ›… mit ein bisschen Glück könnte …‹ wurde selbstredend von seinem Chef in ein ›Wir schaffen das!‹ umgewandelt.

Central Emerging Recognition Boundary Engine for Realtime User Surveillance, welche monströses Akronym, dass sich da irgendwelche Sesselfurzer wieder ausgedacht hatten. John stellte sich gern vor, wie ganze Abteilungen verzweifelt nach Wörtern gesucht hatten, um CERBERUS noch eine tiefere Bedeutung zu geben. Wobei man das Wort tief am besten mit Niveau in Verbindung brachte um die richtige Vorstellung der intellektuellen Leistung dahinter zu erfassen.

Genaugenommen war er selbst auch nur einer dieser Sesselfurzer. Allerdings beschäftigte er sich nicht mit Akronymen. Er beschäftigte sich mit dem Viech, wie er die KI nannte, mit der künstlichen Intelligenz, die für den Namen CERBERUS stand.

Und was für Wunder dieses Viech alles vollbringen sollte, wenn es nach den höheren Etagen ging. Natürlich wollten sie eine simultane Echtzeitüberwachung aller Nutzer. Und es sollte so ein Minority Report Ding sein. Was auch sonst? Und selbstredend waren sie nicht Teil der Menge, die überwacht werden sollte. Nebenbei, als ob diese Forderung eine Kleinigkeit wäre, sollte das Viech auch noch eine intelligente Firewall sein, die Angreifer und Eindringlinge aufhält, identifiziert, verfolgt und digital zur Strecke bringt. Um die Whistleblower sollte sich das Viech auch noch kümmern. Verhindern, dass keine Information nach draussen dringt, die nicht dafür vorgesehen ist.

Doch worauf sie besonders stolz waren, war ihre geniale Eingebung, dass man sich mit CERBERUS gleich die ganzen Systemadministratoren sparen könnte. Das wird doch sicher kein Problem sein, hiess es augenzwinkernd, wenn CERBERUS all die anderen Sachen kann, dann ist das doch automatisch dabei. John konnte damals nur nicken und schlucken, wobei er sich dachte, aber sicher, wenn ich mir nen Apfel kaufe ist immer auch ne Birne automatisch dabei. Eine die mit den Augen zwinkert.

Womit sie trotzdem nicht ganz Unrecht hatten. Sollte das Viech wirklich all diese Wunder vollbringen, dann wäre die Administration wahrscheinlich nur noch ein kleineres Wunder, wenn überhaupt. Leider sah die Realität immer noch anders aus. Kaum hatte das Viech gelernt, Sarkasmus zu erkennen, verlor es schon wieder seine Fähigkeit, als Firewall zu agieren. Oder es verwechselte Zynismus mit Ernst.

Zum Glück waren Menschen gegen Missverständnisse immun, meldete die Ironie-Fraktion in seinem Kopf. Man füge dem System einfach nur solange neue Fehler hinzu, bis sich aus den Fehlern etwas Sinnvolles ergibt. Voilá, das Wunder des Lebens. Seltsamerweise bildete sich in seinem Geist das Bild einer zwinkernden Birne.

Was halfen da die neuesten Techniken und Erkenntnisse? Dabei hatte man sich so gut es ging am menschlichen Vorbild orientiert. Hochvernetzt. Bereiche, bei denen die Lernfunktion abgeschaltet werden konnte. Getreu dem Motto ›Was Hänschen nicht lernt, lernt Hans nimmermehr!‹. Doch im Gegensatz zum imaginären Hans konnten sie das Lernen wieder einschalten und nochmal anfangen. Es hätte funktionieren müssen!

Doch das Viech war immer noch so dumm wie Brot. John war sich nicht einmal sicher, ob er sich eine Änderung dieses Zustands wünschen sollte. Er fragte sich ernsthaft, ob sie das Viech nicht besser Pandora genannt hätten.

Es war zu komplex. Und sollte es je funktionieren, würde es keiner mehr verstehen. Und somit auch keiner mehr kontrollieren können. Es war nicht wirklich das Nadel im Heuhaufen Problem, eher das Problem einige Milliarden Nadeln in noch mehr Heuhaufen dazu zu inspirieren, mit den ihnen verfügbaren Mitteln eine Symphonie zu komponieren.

Monatelang hatte er an der Netzwerktopologie gebastelt, hier ein rekurrentes Feedbacksystem eingeführt, da ein einfaches Feedforward-Netz hinzugefügt und trotzdem hatte nichts davon eine wirklich messbare Verbesserung ergeben. Das Training des Viechs war anstrengend. Wobei anstrengend hier die Krönung des Euphemismus war.

Man stelle sich einen Zoo vor, mit den unterschiedlichsten Tieren. Insekten, Fische, Vögel, Tiger, Elefanten und was da noch alles gibt. Und nun hat man da diesen magischen Taktstock in der Hand. Zumindest hofft man, dass er magisch ist. Alle Tiere werden gleichzeitig freigelassen. Nun ja, nicht alle. Wenn man Fische einfach so freilassen würde, ohne geeignete Massnahmen, würden die meisten wohl japsend sterben. Und dann steht man da, während der Tiger über das Gnu herfällt, der Löwe einen schon anschaut, als ob man ein Leckerbissen wäre, in dem Moment in dem man zur Seite springt, um dem Elefanten auszuweichen, nur um sich in einem riesigen Termitennest wiederzufinden, das eifersüchtig von einem Ameisenbär verteidigt wird. Genau jetzt sollte der magische Taktstock alles in eine Symphonie verwandeln.

Sollte.

Stattdessen versucht man sich in dem Zauberkunststück, die jeweiligen Tiergattung auf sich aufmerksam zu machen, sich als vermeintliches Opfer solange hetzen zu lassen, bis sie in ihrem Eifer nicht mehr merken, dass man sie zurück in den Käfig geführt hat. Und dann den Käfig wieder sorgfältig zu verschliessen. Natürlich entkommt ab und zu etwas.

John war also ein Kindergärtner, wenn man es genau nahm. Ein Kindergärtner, mit den Fähigkeiten eines Indiana Jones, der eine mässig begabte künstliche Intelligenz betreute und verzweifelt darauf hoffte, dass endlich ein Wunder geschah, während er an den Parametern für den magischen Taktstock schraubte.

Das tägliche Highlight von Johns Feierabendblues war jedoch immer die Frage, was in aller Welt er angestellt hatte, um dies zu verdienen? Es gab soviele interessante Orte in der Welt, die er gern gesehen hätte. Die Ruinen von Paris zum Beispiel. An Moskau war nicht zu denken, auch wenn er diese Stadt gern gesehen hätte. Doch es blieben noch Indien und China, Staaten die gerade unglaubliche Entwicklungen durchmachten. Mit noch unglaublicheren Städten.

Und wo war er? Er war in diesem langweiligen Europa gelandet. Ein Europa in dem die Küsten immer weiter ins Landesinnere verschoben wurden. Ein Europa das technisch und politisch tot war, Rohstoffe gab es ja schon lange nicht mehr. Als ob das nicht schon schlimm genug war, befand er sich ausgerechnet noch im langweiligsten Land Europas überhaupt: Deutschland.

Nun, selbst in Deutschland gab es für Amerikaner noch einige erträgliche Orte. Berlin oder Köln zum Beispiel. Hamburg stand bereits unter Wasser. Aber nein, weit gefehlt. Stattdessen hatten sie ihn nach Wiesbaden geschickt. Wiesbaden! Holy shit, man! Konnte es wirklich noch schlimmer kommen?

Klar, hier war man nicht in der ›direkten‹ Reichweite offizieller amerikanischer Behörden. Und es gab hier diverse strategische Stützpunkte in denen man all die Sachen testen und entwickeln konnte, die anderswo politisch ›fragwürdig‹ gewesen wären.

Aber Deutschland? Wen interessierte Deutschland? Es war schliesslich nur ein weiterer wirtschaftlich uninteressanter Vasallenstaat. Durch ihr Obrigkeitsdenken und ihren vorauseilenden Gehorsam waren die Deutschen viel leichter zu kontrollieren als zum Beispiel Franzosen oder Italiener. Mithin der perfekte Ort, um am Rande der amerikanischen Legalität zu operieren. Aber abgesehen davon?

Ganz selten fragte sich John manchmal, auf welcher Seite des Randes sie eigentlich standen? Aber solche Gedanken waren müssig. Nicht zielführend. Er wollte nicht, dass ihn sein Gesicht verriet. Dann hätte er wieder lange psychologische Gespräche. Wie damals in seiner Anfangszeit bei der NSA.

»Mr. Mitchell?«
»Ja Mam?«
»Ihr Infrarotbild zeigt Stresssymptome, die Messwerte und ihr Gesichtsausdruck sprechen eine beredte Sprache. Haben sie Zweifel?«
»Was meinen sie mit Zweifel?«
»Meinen sie immer noch, dass sie der richtige Mann für diesen Job sind?«
»Ähem, sorry, Mam, aber ich verstehe ihre Frage nicht.«
»Haben sie moralische Bedenken?«
»Welcher Art, Mam?«

Die einzige Möglichkeit aus solchen Verhören heil herauszukommen, war es, sich einfach unendlich dumm zu stellen und dann nicht über seine eigene Klugheit zu stolpern. Es war ein Ausdauerspiel. Man durfte weder aufgeben noch den anderen zur Weissglut treiben. Direkte klare Fragen konnte man mit Ja oder Nein beantworten. Bei allem anderen musste man den Verhörspezialisten, wie sie John bei sich nannte, obwohl Mitarbeiterbetreuer ihr offizieller Name war, in die Enge treiben, während dieser das gleiche Spiel spielte. Klar konnte man seinen Mitarbeiterbetreuer dazu bringen, entnervt aufzugeben. Aber das hiess nur noch mehr Gespräche.

Seit Assange, Snowden und Manning war das Klima zunehmend rauer geworden. Zuviel war in zu kurzer Zeit passiert. Damals, als es noch ohne Folgen blieb. Ausser Exil oder Gefängnis.

Heute wäre jeder enttarnte Spion froh, standrechtlich erschossen zu werden. Dieses Privileg wurde jedoch nur wenigen zugebilligt. John wusste nicht viel darüber und wollte auch nichts darüber wissen. Es reichte ihm schon, dass immer mal wieder wilde Gerüchte die Runde machten, wie das Guantanmo harmlos gewesen sein soll im Vergleich zu den neuen Therapiezentren.

Und jetzt hiess es auch noch, zum hundertsten Mal, man wolle alle Systemadministratoren entlassen. Man hätte jetzt endlich eine Alternative!

Ha! Man hatte Präsentationen. Das hatte man! Und Wünsche. Und Visionen. Natürlich war alles hoch geheim und hinter vorgehaltener Hand. Das typische ›Das ist extrem geheim. Ich sag es dir nur, weil ich dir vertraue. Du weisst ja, kein Wort zu Niemandem!‹. Die beste Garantie um sicherzustellen, dass es aber auch jeder weiss. Sein Chef hatte seinen Vorgesetzten die Erfolge in grossen Lettern verkündet. Nur ein paar, wie zufällig wirkende, Randnotizen wiesen auf mögliche Probleme und den Hauch von Misserfolgen hin. Die Technik des Kleingedruckten perfektioniert mit PowerPoint.

Wie immer und überall war keiner interessiert an Problemen, Einschränkungen oder Randnotizen. Es ging um das ›grosse Ganze‹, das Ziel! Und das man ja schon fast produktionsreif sei! Das unter definierten Laborbedingungen getestet wurde, ignorierte man nur zu gern. Und das noch kein Test ausserhalb des Labors erfolgreich war, wollten die meisten erst gar nicht zur Kenntnis nehmen.

»Dann verbessern sie einfach noch ein bisschen die Laborbedingungen, junger Mann. Sie schaffen das schon. Wir sind ja so stolz auf sie …«

In welcher Pippi Langstrumpf Welt diese Menschen auch immer lebten, John hatte immer sehr viel Mühe zu verhindern, dass das Viech das Netz irreparabel beschädigte. Von den Aufräumarbeiten ganz zu schweigen. Mehrere Personen wurden verhaftet oder von Drohnen zur Strecke gebracht, für die John nichts mehr tun konnte. Ausser die Spuren zur NSA zu beseitigen. Er konnte ja schlecht zur nächsten Polizeidienststelle rennen und sagen, sorry, wir hatten einen leicht missglückten Testlauf mit CERBERUS und der hat wohl einige Aktivitäten falsch interpretiert.

Was sollte er mit diesem Sprachkrüppel, dessen voraussagbarste Aussage »Wiederhole das bitte, ich habe es nicht verstanden!« war, nur anfangen? Schliesslich war diese Reaktion, wie auch andere Basisparameter, ›hartverdrahtet‹. So wie eine Stammhirnfunktion, sehr tief eingebettet in die Reaktionsmuster und somit vorhersehbar.

Für John war klar, dass das nur klappen könnte, wenn man der künstlichen Intelligenz auch die notwendige Entwicklungszeit zubilligte. Die Grösse des Gehirns? In seinen Augen ein überschätztes Mass. Selbst Vögel mit ihren kleinen Gehirnen waren zu erstaunlichen Leistungen fähig.

Und hier hatten sie einen Computer, der auf neuronalen Zellkulturen basierte. Einen Computer, der immerhin fast ein Drittel der menschlichen Neuronen hatte. Vier Milliarden Neuronen!

Ein Mensch hatte ungefähr vierzehn Milliarden Neuronen. Allerdings waren das nur die Neuronen im Gehirn. Die meisten vergassen, dass ein Mensch insgesamt über hundert Milliarden Neuronen hatten. Die in seinem Körper verteilt waren. Insofern war das mit dem Drittel eine masslose Übertreibung. Tatsächlich hatten sie gerade mal vier Prozent der Neuronen, über die ein Mensch verfügte. Wie jemand auf den Gedanken kommen konnte, dass dies ausreichen müsste um ein Supergehirn zu erzeugen, dass den Menschen um ein Vielfaches übertrifft, konnte sich John nicht annähernd vorstellen. Aber wenn sich das ein Idiot vorstellen konnte, dann war es vielleicht sogar möglich.

Fakten? Noch nie hatten Fakten Menschen nachweisbar in ihren Handlungen beeinflusst.

Zum Teufel auch, sollte das Viech doch allein trainieren. Was brachte es schon, wenn er die Korrelation zwischen Input und Output überwachte, um zum 62489ten Mal festzustellen, dass es einfach nicht besser wurde? Und die ganzen audiovisuellen Kontakte zum Viech, die sich knapp über dem Niveau einer Babysprache befanden.

»Da? Terrorist?«
»Ahhist?«
»Nein! Terrorist? Da? Möglich?«
»Nerralich?«
»Nein, nein, nein! Diese Bild, dieser Beitrag, Terrorist? Möglich?«
»Wiederhole das bitte, ich habe es nicht verstanden! …«

Er würde heute mal etwas Neues probieren. Und das Gute daran war, er müsste gar nicht dabei sein. Er würde CERBERUS heute ins Land der Träume schicken. Keine Trainingseinheit. Sondern eine willkürliche Anregung der Neuronen. Ein Gehirngewitter. Oder ein Traum. Wer wusste das schon?

John startete ElectronicSheeps, wie er die Routine nannte und machte sich zum Gehen bereit. Das hiess alle offenen Unterlagen sicher verschliessen. Clean Desk Policy, wie es sich nannte. Und es hiess, sich ordnungsgemäss aus allen Systemen auszuloggen. Ein bürokratischer Popanz, der aus Johns Sicht mehr Zeit kostete, als er einbrachte. Selbst die Putzfrauen waren handverlesen und wurden die ganze Zeit überwacht.

Dazu kam jetzt noch das neu aufgeblühte und perfide System des Anschwärzens. Jedes Verhalten, das von jemanden auch nur ansatzweise als verdächtig wahrgenommen wurde, war zwingend zu melden. Selbst wenn man sah, dass jemand seinen Schreibtisch nicht wie vorgeschrieben verlassen hatte.

Ein perfekter KZ-Zoo dachte John, die Gefangenen überwachen sich gegenseitig. Ganz grosses Kino! Obwohl, genaugenommen führte es eher dazu, dass viele die Köpfe unten behielten. Was man nicht sah, konnte man auch nicht melden. Während nur einige wenige sich in ihrem neuen Status als selbsternannter Blockwart sonnten. Wie dieser dämliche Kipling, der immer mit Argusaugen umherlief.

Als ob die ganzen Bugs nicht reichten? Die Stäubchen, die ständig durch die Gegend schwirrten und alles aufzeichneten. Und da lag die Crux! Schon in den frühen Anfängen der NSA war die Datenmenge das entscheidende Problem. Die Daten zu bekommen? Nichts einfacher als das. Die meisten gaben ihre Daten freiwillig her. Für die Chance irgendwo mit dabei zu sein. Für die Hoffnung auf einen Lotteriegewinn. Oder für irgendwelche Spiele nach dem Motto Was bedeutet dein Name oder Wer ist dein bester Freund. Wobei die sogenannten Freunde oder Follower unfreiwillig gleich mit ihre Daten spendeten.

Beim Verlassen des Gebäudes dachte John über die Gefangenen in KZ‘s nach, während er seinen Zinken rieb. War er wirklich damit zu vergleichen? Empfand er sich wirklich als Gefangener?

Nein, die stetigen Verschärfungen der Massnahmen waren unangenehm, aber was sollte einem schon passieren, wenn man nichts zu verbergen hatte? Und wenn jemand für Freiheit stand? So wie er. Und wie sein Land. Die Vereinigten Staaten von Amerika!

Letzthin hatte doch glatt ein alter Mann zu ihm gesagt, Deutschland wäre postfaschistisch, Amerika dagegen präfaschistisch. Was wusste dieser Idiot denn schon? Es war ja schon unklar, ob Faschismus und Nationalsozialismus ein und dasselbe waren, auch wenn es seit 1920 als Synonym verwendet wurde. Als ob die Deutschen je den Nationalsozialismus überwunden hätten? Dabei hatten sie kaum Zeit gebraucht um nach dem Mauerfall Deutschland in eine zweite DDR zu verwandeln. Wahrscheinlich war das so eine alte preussische Sehnsucht. Bürokratie und Kontrolle, sonst fühlt sich der Deutsche nicht wohl.

Nein, es hatte in den Staaten nie ein faschistisches oder nationalsozialistisches Regime wie Hitler gegeben. Und es würde keins geben! Das war undenkbar. Wo doch jeder eine Waffe trug! Amerika war eine wehrhafte Demokratie. Die auf ihren Schultern die Last eines Imperiums trug. Und selbst Trump überlebt hatte.

Was wollten diese Möchtegern-Grossmanns aus Deutschland ihnen eigentlich sagen? Die hatten doch noch nie auch nur annähernd ein Imperium gehabt. Nie gewusst und gespürt wie viel Verantwortung man mit einer entsprechenden Grösse trug. Immer nur am Rand mitgespielt. Und von ihrem grossdeutschen Reich geträumt. So what?

Egal. Raus hier. Und dann ein Bier und ein Burger. Am besten bei einem von den Mexikanern in Wiesbadens gesicherten Bezirken. Da fühlte er sich noch am wohlsten. In Texas war er mit diesem ganzen Tex-Mex-Food aufgewachsen. Und dort hing es ihm irgendwann regelrecht zum Halse raus.

Aber hier? Hier konnte er nicht genug davon kriegen. Und er konnte wenigstens einen normalen Pitcher bestellen. Er musste sich nicht mit diesem seltsamen metrischen Mass herumschlagen.

Er würde mit Sicherheit einen total entspannten Abend haben …

Kapitel 2 – John!

Regression – Vorwort

Regression (von lat. regredior, zurückschreiten) beschreibt ein Zurückkehren zu einer vorherigen Form, eine Rückentwicklung.

Dieses Buch ist meiner Familie gewidmet.

Sind wir nicht alle eine Familie?

2031, in ganz Europa breiten sich Notstandszonen aus. Eine andere Beschreibung für Gebiete die ausserhalb jeder staatlichen Kontrolle stehen. Sie dienen als Ressourcen für billigste Arbeitskräfte ohne Rechte.

Die Notstandszonen und Grenzen werden mit Hilfe von Bugs, wie sie genannt werden, Drohnen unterschiedlicher Grösse und Fähigkeiten, verwaltet und ausgepresst um die Versorgung der gesicherten Zonen mit Rohstoffen und Nahrung zu garantieren.

Eine Todeszone soll unerwünschte Einwanderer und Asylanten daran hindern, die gesicherten Zonen zu erreichen. Viele Stadtgebiete, sowie Industrie und Energie sind unter militärischer Kontrolle. Die politische Überwachung, wie auch die Grenzkontrolle, obliegt den amerikanischen und europäischen Geheimdiensten.

Staatliche Strukturen und Gesetze sind auch in den gesicherten Zonen auf dem Rückzug. An ihrer Stelle breiten sich mafiöse Strukturen aus. Die Notstandszonen sind teilweise in der Hand verschiedener Milizen, von denen viele Kindermilizen sind. Ein kaum noch vorhandener Widerstand in den gesicherten Zonen versucht verzweifelt zu überleben.

Handlungsort ist Wiesbaden und das Taunusgebirge. Ein NSA-Programmierer, der an einer künstlichen Intelligenz arbeitet (CERBERUS) wird entführt und erlebt eine unvorhergesehene Odyssee. Währenddessen macht sich die von ihm erschaffene künstliche Intelligenz selbstständig. Zusammen mit einem kindlichen Cyborg sorgt sie für mehr als nur Verwirrung.

Die in diesem Buch verwendeten Adressen und Orte entsprechen des Öfteren realen Adressen und Orten. Alle Figuren dieses Romans sind jedoch rein fiktional, auch wenn ihnen reale Orte und Adressen zugewiesen wurden.

Etwaige Übereinstimmungen mit der Realität sind rein zufällig und nur für die Geschichte relevant. Historische Ereignisse und existierende Organisationen, die in der Geschichte eingebettet sind, sind rein subjektive Wahrnehmungen der involvierten Personen im Rahmen der Geschichte. Sie stellen keinerlei Anspruch auf Vollständigkeit, Objektivität oder gar Korrektheit dar, abgesehen davon, dass erwähnte Ereignisse vor 2017 möglicherweise stattgefunden und die Organisationen möglicherweise existiert haben.

Diese Geschichte ist mein Geschenk an dich, werter Leser.

Kapitel 1 – Das Viech