Freier Fall

Nun, er hatte Glück! Immerhin hatte er nicht, wie andere, darauf bestanden, dass er keine Kinder wöllte. Er meinte, lassen wir’s drauf ankommen, was ihm viel Ärger und Frust ersparte. Dafür jede Menge anderen Frust und Ärger einbrachte.

Ganz im Gegensatz zu den anderen Männern, die keine Kinder wollten, sie aber trotzdem bekamen. Und wenn Frau dazu auf die Samenbank gehen musste, um nachher den Vater in die Pflicht zu nehmen. Gegen biologische Imperative kämpft man nicht an! Das Leben war auch so schon kompliziert und enttäuschend genug. Frag Marvin, wenn du es nicht glaubst.

Dass dann diese Kinder da waren, half meist, es als Glück zu verklären. So wie das Glück von einem Güterzug frontal gerammt zu werden und es trotzdem zu überleben. Und was konnten die Kinder schon dafür? Keine Sorge, das Leben würde sich schon was Passendes ausdenken. Da konnte man sich, bei so einer unbeständigen Sache, wie dem Leben, sicher sein.

Leben? Ja, das war wohl der Gedanke, der ihn auf diesen Fenstersims gebracht hatte. Nein, er hatte nicht vor, dreimal so alt zu werden, wie das Universum, um dann, genau wie Marvin, sagen zu können: Leben? Erzähl mir nichts vom Leben …

Es würde heute enden, so oder so! Nicht das es eine Rolle gespielt hätte. Eigentlich war er doch schon seit Ewigkeiten so tot, wie Hot Black Desiato, nur nicht aus steuerlichen Gründen. Und Gründe sich zu beklagen hatte er sowieso nicht. Wie käme er dazu? Beklagt sich ein Surfer, wenn ihn die Welle erwischt?

Nun gut, ja, die meisten beklagen sich.

Aber ein Surfer im Herzen? Nie!

Ausser, wenn es keiner sieht!

Gnädiger gestimmte Menschen machten dann das Schicksal oder irgendwelche Götter verantwortlich. Weniger gnädige Personen, die Sorte, die, die man zuhauf an jeder Ecke trifft, machen eher andere Personen oder Dinge verantwortlich. Was vielleicht erklärte, warum so viele Leute mit vollem Bauch und Dach über dem Kopf tatsächlich meinten unglücklich zu sein.

Es gab natürlich eine Theorie, die besagte, dass man solche Probleme eigentlich nur mit vollem Bauch und Dach über dem Kopf hätte. Aber wie die meisten Theorien, war auch diese Theorie nur annähernd richtig, auch wenn der kausale Zusammenhang nicht gänzlich konstruiert war.

Das es eigentlich keine kausale Zusammenhänge gab, war nur eine Nebensächlichkeit, die dem Menschen nicht bewusst war. Nicht bewusst werden konnte, was aus der Tatsache resultierte, dass diese Lebensform auf einem Betriebssystem lief, dessen Treibstoff Kausalität war. Egal, ob es sie gab!

Alles musste einen Grund haben. Musste! Und wenn es einen Grund geben musste, gab es den auch. So einfach, so erheiternd!

Wollte er jemanden verantwortlich machen? Nein! Gewiss nicht. Naja, ein bisschen vielleicht. Eigentlich ganz entschieden!

Und das wäre ja, sogar gemäss der Meinung der Mehrheit, völlig im Einklang mit dem allgemeinen Verständnis von Leben gewesen. Das Dumme war nur, der einzige, der ihm einfiel, den er verantwortlich machen konnte, war unbestreitbar er selbst!

Was spielte das schon für eine Rolle, dass er seine Kinder aufgefordert hatte, ihn fertig zu machen, damit er einen Grund hätte, seine persönliche Misere endlich zu beenden. Er hatte sie schliesslich aufgefordert und sie hatten diesen Job sehr ernst genommen. Mehr kann man sich doch nicht von seinen Kindern erwarten? Zumindest in einem ironiefreiem Leben, in dem man alles wörtlich nimmt.

In einem kurzen Anfall von Verzweiflung hatte er daran gedacht, die Kinder mitzunehmen, den ganzen langen kurzen Flug. Natürlich nur am Telefon. Am besten über Skype. Oder Youtube. Damit die Gaffer auch auf ihre Kosten kämen. Aber nein, das betraf nur ihn und diese Personen waren nur zufällig seine Kinder. Was hatten sie schon damit zu tun, dass er da war, wo er war?

Natürlich alles!

Aber das spielte keine Rolle. Im Endeffekt hatte er das gemacht, was er gemacht hatte und sich nie anders entschieden. Möglicherweise aus diesem Zwang heraus, einen Grund zu finden. Weil die Kinder da waren, musste er arbeiten. Weil er auch noch die Schulden aus der Ehe übernahm und Unterhalt leisten musste, musste er noch mehr arbeiten. Weil die Kinder auf einmal hunderte von Kilometern entfernt waren, arbeitete er noch mehr und so weiter und so fort, der ganze typische „Ich seh da einen Zusammenhang“ Kram halt.

Dabei war es seine Entscheidung die Verantwortung zu übernehmen. Auch wenn ihn niemand, ausser er selbst, darum gebeten hatte. Naja, seine Frau oder sollte er Frauen sagen, ja, Frauen klang besser und war korrekter, hatten gefordert und gewollt. Ausser wenn sie mal nicht gewollt hatten. Meist wenn er wollte. Da kann man doch nicht wirklich davon reden, dass er gebeten wurde. Und dass die Kinder ihm die Schuld gaben, dass die Frau auf einmal hunderte von Kilometern zwischen ihn und die Kinder brachte, je nu, war ja klar. Wer sollte denn sonst Schuld sein? Die unangreifbare, unfehlbare Mutter etwa?

Wage es nicht uns die Schuld zu geben hiess es. Wie der Polizist, der ihn nicht durchlassen wollte, weil da eine Veranstaltung war. Und die Begründung, dass er aber dort wohnte, so sehr mochte, dass er ihm herzzerreissend die Scheisse aus dem Leib prügelte. Und dabei immer schrie: „Geben sie nicht mir die Schuld! Sie haben doch damit angefangen!“. Wenigsten hatte der Polizist nicht auch noch gedroht, sondern eher höflich gebeten. Auf seine Art. Mit Worten zumindest. Was konnte er schon dafür, dass seine Taten so anders ausfielen.

Dabei ging es ihm gar nicht darum, irgendjemandem die Schuld zu geben, sondern nur zu erklären, warum er im Bezug auf Weihnachtsgeschenke nicht in der Stimmung gewesen war. Nicht in der Lage war, viel zu schreiben oder gar anständige Geschenke zu liefern. In Sachen Erwartungen, da kannten seine Kinder kein Halten. Da waren sie Profis. Da waren sie in vertrautem Gelände. Das konnten sie.

Und alles nur, weil die Kinder sich beschwerten. Über die Geschenke. Natürlich. Und über ihre wiedermal enttäuschten Erwartungen. Allerdings hatten sie davon so viele, dass es eher schwer war, irgendwen irgendwie mal ausnahmsweise nicht zu enttäuschen.

Von allein hätte er mit diesem Thema gar nicht angefangen, das ihm dann um die Ohren gehauen wurde. Aber dieses selbstmitleidige, erwartungsenttäuschte „Das musste jetzt mal raus!“ hatte ihn zu einer Gegenreaktion getrieben. Auch bei ihm musste mal einiges raus.

Nicht das es seine Kinder interessierte, wie es ihm ging. Was da mal raus musste. Ausser es war lustig, fröhlich, unverbindlich. Sie hatten ja schon sein Testament als Angriff gewertet. Als ob es so unnormal wäre, in höherem Alter auch mal darüber nachzudenken, was wäre, wenn ihm irgendetwas zustossen würde. Insbesondere wenn man ständig unterwegs war. Auf die Dauer der Zeit steigt nun mal die Wahrscheinlichkeit für Unfälle.

Nein, jedes Anzeichen von Nichtfröhlichkeit war ein Affront. War ein Sturmangriff auf ihre Erwartungen, jetzt doch bitte bedient zu werden, jetzt doch bitte das zu bekommen, was sie sich wünschten. Es reichte doch wirklich, dass ihnen schon die Welt verweigerte, ihre Erwartungen zu erfüllen. Da war es doch nur recht und billig, dass wenigstens er ihre Erwartungen erfüllte.

Und bis zu einem gewissen Alter fand er das auch völlig okay. Schliesslich machte man das doch so. Den Kinder erzählen, dass alles nicht so schlimm ist, während man innerlich verreckt. Das alles wieder gut wird, während man nicht schlafen kann und nicht weiss, wie es weitergehen soll. Das macht man doch so.

Aber bei erwachsene Personen? Mit eigenen Kindern, die langsam in die Pubertät kommen? Er fragte sich immer noch, wann er diesen Vertrag mit Blut unterschrieben hatte? Ach nee, genau, es war kein Blut gewesen. Es war Sperma! Die Geheimtinte. Alles klar.

Hätte er sich ja eigentlich gleich denken können. Ha, denken, er war sich ja noch nicht mal sicher, ob er überhaupt denken konnte. Nachher denken, ging immer gut. Oh nein! Hätte ich doch nur! Wenn ich das gewusst hätte! Das funktionierte prima. Das mit dem vorher denken, das war das Problem.

Das Konzept einer Drohung schienen sie auch nicht verstanden zu haben. Oder er hatte es nicht verstanden. Wer weiss das schon. Sie hatten sich beschwert, er hatte versucht es zu erklären. Dummerweise keine fröhliche Sache. Dummerweise vermintes Gebiet. Aber eine Drohung? Wo hatte er verdammt noch mal damit gedroht? Er hatte erwähnt das es ihm schlecht ging, worauf ganze Engelschöre „Selbstmitleid, Selbstmitleid, Selbstmitleid“ anstimmten.

Er hatte erwähnt, dass er weiterkämpft. War das die Drohung? Sollte er endlich konsequent mit kämpfen aufhören? So hatte er das bis jetzt noch nie gesehen. Klar, seine Gegenwart, auch wenn weit entfernt, weiter ertragen zu müssen, Schuldgefühle zu haben, weil man keine Zeit und keine Lust hatte, sich um den Vater zu kümmern, logisch, wenn er dann weiterkämpfte, dann war das eine handfeste Drohung.

Das Gute war, dass sie damit seinen Trotz geweckt hatten. Sonst hätte er sie auf die Brücke mitgenommen. Doch wenn sie das mit aller Macht versuchten, ihn genau dahin zu bekommen, dann … dann erstmal nicht. Nicht mit mir. Und so erst recht nicht. Sein ganzes Leben hatte er sich dieser Welt abgetrotzt. Da kannte er sich aus. Da war er auf vertrautem Terrain.

Überrascht entdeckte er, dass er ein wandelnder Widerspruch war. Egal was jemand sagte, er fand ein Position die der geäusserten diametral gegenüber stand. Ich mag das nicht – ach es hat doch auch seine schönen Seiten. Ich mag das – naja, wo Licht ist, ist auch Schatten. So etwas in der Art. Aber auch das spielte jetzt keine Rolle mehr. Selbst am Trotz und Widerspruch hatte er mittlerweile den Spass verloren.

Kurz danach dachte er noch daran, seine Kinder zu enterben. Schrieb es auf. Zerriss es wieder. Was, in Gottes Namen, konnte er schon vererben? Da war nichts mehr von Wert. Und sein Leben? Keinen Pfifferling war es wert.

Wieso stand er jetzt eigentlich hier? Auf dem Fenstersims? Und fror? Und dachte? Dieses Danachdenken. Es wurde Zeit für einen Schlussstrich. Oft, wenn er glaubte, er könne nicht mehr, hatte er sich mit den Gedanken an seine Kinder getröstet. Halt gefunden. Einen Grund. Einen beschissenen, verdammten, idealisierten Grund.

Worte, ja, Gelaber ja, da waren seine Kinder Meister, wie er selbst. Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm. Klar doch, du bist immer willkommen. Und so. Reine Lippenbekenntnisse. Als er zufällig noch dachte, weil er in der Nähe war, sich bei einem seiner Kinder zu melden, wäre eine tolle Idee, kam nur ein vorwurfsvolles „Was willst du denn hier?“. Er hatte sich aus dem Staub gemacht, bevor noch mehr dieser liebevollen Wörter sein Ohr erreichen konnte.

Einen Abschluss, er musste einen Abschluss finden. Die Sache ging schon viel zu lange und, um es mit Marvin zu sagen, er hatte immer noch diese schrecklichen Schmerzen in der linken Diode.

Deswegen war er hier. Um das alles hinter sich zu lassen. Um dem Trotz zu trotzen. Der ultimative Trotz sozusagen. Wie sollte er sich noch mit Kindern trösten, die einen alten kaputten Mann eher in den Tod trieben als ihm vielleicht mal zu sagen, ist alles nicht so schlimm? Wird schon wieder. Sie waren ja schliesslich nicht seine Eltern. Der Job war nur für die eigenen Kinder bestimmt.

Nein, in solchen Kindern konnte er keinen Trost mehr finden und für alles andere war es nun auch zu spät. Es ist ja nicht so, dass das Alter mit Lebenskraft und Gesundheit einhergeht. Eher entzieht das Alter dir genau diese Sachen.

Genug gedacht, in einem anderen Leben würde er ihnen vielleicht verzeihen können, aber vergessen? Nein, vergessen würde er nie. Ausser er sprang jetzt endlich. Wenn nicht, würde er noch zum Ritter von der traurigen Gestalt. Und Aufmerksamkeit erregen. Doch an dieser Sorte Aufmerksamkeit lag ihm nichts. Die andere Sorte jedoch gab es nicht. Nicht für ihn … also sprang er.

Noch im Fall kam ihm der Gedanke, habe ich da nicht etwas vergessen. Doch, zu spät. Er fiel und die Zeit dehnte sich ins Unermessliche. So ein Schmarrn, dachte er, dass sich das Leben nochmal vor einem abspult, wenn es soweit ist. Alles nur Blödsinn made in Hollywood. Entweder denkt man „Scheisse, ich falle, ich ertrinke, ich … irgendwas“ oder man denkt „War da nicht noch was?“. Und dann ist es schon rum.

Weich landete er auf dem Rasen vor dem Fenstersims. Des Fensters im Erdgeschoss. Die Nachbarn schauten immer noch etwas komisch. Aber er war glücklich. Er hatte es einfach tun müssen. Diesen symbolischen Sprung in ein neues Leben. Das alte hatte er hinter sich gelassen. Es war ihm egal. Es war Geschichte.

Das neue Leben hatte eben erst begonnen!

(Zu Marvin und Hot Black Desiato befrage man den „Anhalter durch die Galaxis“ – ein Buch, auf dem mit freundlichen Worten KEINE PANIK steht.)

Die seltsam neue Mode des Autismus-Vorwurfs

In den letzten Monaten hatte ich Gelegenheit mehrere Einschätzungen eines Beziehungsende zu hören zu bekommen, von Männern ebenso wie von Frauen. Eine davon betraf sogar mich selbst. Es ist ein sehr kleines Sample, acht  Einschätzungen insgesamt, drei von Männern (wenn ich mich mit einrechne, dann vier), fünf von Frauen. Insofern sind Männer unterrepräsentiert und statistische Verzerrungen sind anzunehmen, schon allein aufgrund der geringen Grösse des Samples.

Extrem in Mode, so scheint mir, ist der Autismus-Vorwurf an einen ehemaligen Partner. Drei von fünf Frauen haben in den letzten Monaten diese Diagnose angewandt, was für mich schon eine interessante und signifikante Steigerung in der persönlichen Statistik ist. Ich kannte dieses Argument in diesem Zusammenhang vorher nicht. Bei den betroffenen Männern scheint sich diese Strategie noch nicht durchgesetzt zu haben. Vielleicht hat es ja mit irgendwelchen Fernsehserien zu tun, die Frauen eher schauen. Oder mit der Flut an Internet-Ratgebern. Wer weiss das schon?

Schauen wir uns doch diese Vorwürfe, verpackt als Diagnosen, mal im Einzelnen an:

  1. Ich selbst war mit einer relativ milden Form konfrontiert, wobei ich nicht weiss, wie meine ehemalige Partnerin das anderen Menschen darstellt. Ich wurde aufgefordert, darüber nachzudenken, ob ich nicht unter dem Asperger-Syndrom leide. Ein Mangel an Empathie wurde auch mir zum Vorwurf gemacht.
  2. Eine Dame beschrieb ihren einen Ex-Partner als autistisch, da es ihm an Empathie mangeln würde und er einmal sogar mehrere Stunden angezogen auf dem Bett gesessen hat und nicht ansprechbar war. Er wäre aber eine nette, zuvorkommende, liebenswerte Person. Ihren anderen Ex-Partner beschrieb sie als einen Alkoholiker, der unter starken Stimmungsschwankungen litt.
  3. Eine andere Dame beschrieb ihren Ex-Partner ebenfalls als autistisch, da es ihm an Empathie mangeln würde. Da wäre jetzt so eine Leere in der Kommunikation. Er wäre aber eine nette, zuvorkommende, liebenswerte Person.

Nun, es mag schon sein, dass alle jene, denen Autismus vorgeworfen wird, diesen auch haben. Ich kann das nicht beurteilen, dazu bin ich zu wenig Fachmann. Doch wenn ich schon kein Fachmann auf diesem Gebiet bin, was macht diese Frauen zu Fachfrauen?

Auffällig ist die Übereinstimmung der Muster einerseits im Vorwurf der fehlenden Empathie und das diese Partner eigentlich liebenswerte Personen seien, vielleicht ist auch noch ein Anklang von „der braucht halt meine Hilfe“ dabei – macht sich ja gut in der Sozialverhaltens-Statistik der jeweiligen Peer-Group – die zuvorkommend wären, alles für einen tun würden und was da nicht noch sonst für Attribute verwendet wurden. Ich rekonstruiere aus der Erinnerung, habe mir keine Notizen gemacht, war auch nicht als Studie gedacht. Insofern sind Fehler in der Wahrnehmung annehmbar. Zudem kenne ich die grob skizzierten Geschichte, ausser meiner eigenen, nur von einer Seite, denkbar schlechte Voraussetzungen für Verallgemeinerungen. Auf diesen Umstand sei nochmal im Besonderen hingewiesen, Verallgemeinerungen aus meinen gemachten Erfahrungen sind nicht zulässig und ebensowenig sinnvoll.

Ein Mangel an Empathie ist an sich kein Kriterium, dass so zu Autismus oder Asperger definiert ist. Doch wie verträgt sich das mit einer liebenswerten, zuvorkommenden Person, wenn wir das so stehen liessen? Stehen nicht jene Eigenschaften diametral einer Autismus-Diagnose aufgrund fehlender Empathie entgegen? Und ist ein Mangel an Empathie gegenüber einer bestimmten Person gleichzusetzen mit einem generellen Mangel an Empathie? Kann überhaupt bei einer Beziehungskrise noch davon ausgegangen werden, dass Empathie im Spiel ist? Ich meine von beiden Seiten. Ist es nicht eher so, dass keine Seite in diesen Momenten viel Empathie aufbringt? Geht es nicht eher um die eigenen Interessen, dass eigene Verletzt-Sein? Empathie? Sucht man in solchen Momenten nicht vergeblich danach?

Hätte es überhaupt zur Krise und zum Streit kommen können, wenn bei einem der Beteiligten Empathie im Spiel gewesen wäre? Wären damit nicht vorher schon alle Missverständnisse aufgelöst worden, bevor sie ein katastrophale Wirkung entfalteten?

Interessant war auch die Beobachtung im Falle von Nummer 2, die innerhalb von zehn Tagen einen solch furiosen Stimmungswechsel hinlegte, dass ich immer noch ganz perplex bin. Und die mit Sicherheit kein Alkoholiker ist, Stimmungsumschwünge aber bis zur Perfektion beherrscht. Was sagt uns das eigentlich über Personen, die einen Vorwurf äussern, eine Diagnose stellen? Besteht eine Wahrscheinlichkeit, das der Vorwurf, die Diagnose ebenso auf die Person zutrifft, die ihn äussert?

Keine der gestellten Diagnosen lieferte mehr als vage Behauptungen, die zudem nur Einzelbereiche der Autismus-Störung abdecken, wenn überhaupt. Wie kann sich jemand ernsthaft versteigen, so eine ernste Diagnose über jemanden zu fällen, nur weil es in der Beziehung nicht mehr klappt? Und vor allem mit so oberflächlichen Argumenten? Wenn man es genau nimmt, erfüllen solche Diagnosen Straftatbestände, sollten sie zu Nachteilen für die betreffende Person führen und nicht zutreffend sein.

Was also ist überhaupt Autismus?

Nun, auf diese Frage habe ich keine fachkundige Antwort, ich habe mich nur etwas mit der üblichen schnell verfügbaren Definition im Netz beschäftigt, als diese Frage an mich gerichtet wurde. Ich gehe Hinweisen zu meiner Person und meinem Verhalten gern nach und versuche mir dann ein Bild zu machen. Man möge mir also verzeihen, dass ich ebenso wenig wie jene, die sich anmassen, Diagnosen zu stellen, in der Lage bin, das Thema fundiert und sachgerecht zu durchleuchten. Dennoch fällt auf, dass selbst eine laienhafte Überprüfung der angegebenen Kriterien die gestellte Diagnose nicht unterstützt.

Derzeit wird zwischen frühkindlichem Autismus, hochfunktionalem Autismus, atypischem Autismus, dem Asperger-Syndrom und der Inselbegabung unterschieden (wie ein Leser bemerkte, gehört die Inselbegabung nicht zum Autismus, auch wenn Wikipedia es so aufführt – wie man sieht, im Netz steht viel, es muss aber nicht stimmen). Für die Klassifikation gibt es ICD-10, DSM-5 und die Differentialdiagnose.  Zudem gibt es noch eine Liste von begleitenden Störungen. Man sieht also, es ist alles andere als einfach.

Den frühkindlichen und den atypischen Autismus können wir in Bezug auf Beziehungen und Partnerschaften vielleicht zur Seite lassen, auch wenn diese möglicherweise relevant für den späteren Verlauf sind. Für die Diagnose erwachsener Personen im Sinne meines Samples scheinen sie mir nicht relevant. Bei erwachsenen Personen, die unter frühkindlichem Autismus leiden, ist es, würde ich meinen, bei der Partnerwahl schon klar, was tatsächlich Sache ist. Ich würde nicht vermuten, dass es derart beurteilt und geschildert würde, wie das in meinem Fall geschehen ist. Aber auch hier kann ich irren.

Gehen wir also mal die Liste der Symptome gemäss Wikipedia (Mit Vorsicht zu geniessen!) durch. Und möge der werte Leser, die werte Leserin versuchen, ehrlich bei sich nachzufühlen, ob es nicht auch schon in seinem Leben Situationen gab, in denen er oder sie sich vielleicht entsprechend verhielt.

Die wenigsten Freizeit-Diagnostiker werden sich den ICD-10 zur Gemüte geführt haben, da diese Informationen nicht wirklich gebündelt und leichtverständlich auftauchen. Wer tiefer eintauchen will, versuche es hier und hier.

Den meisten dürften eher die typischen trivialen Darstellung aus Wikipedia und Ratgebern zur Verfügung stehen. Basierend auf DSM-5. Nehmen wir also diese, anhand Wikipedia, zum aktuellen Massstab für eine solche gewagte Diagnose. Das heisst auch, dass ich hier das nicht ernsthaft untersuchen kann, ich bin, wie gesagt, kein Fachmann, ich kann nur logisch mit dem argumentieren, was man im Netz finden kann und möglicherweise die Quelle für diese seltsamen Behauptungen darstellt.

Ein Betroffener weist auf folgende Definitionen hin, die den Wikipedia-Einträgen nicht unbedingt entsprechen:
Unterschieden wird derzeit in Kanner-Autismus (= frühkindlicher Autismus), Asperger-Autismus und Atypischer Autismus. HFA und LFA (High- und Low-Functioning Autism) sind inoffizielle Funktionslabels beim Kanner-Autismus, die von vielen Autisten abgelehnt werden.
Für Interessierte gibt es auch das AutismusFAQ oder diverse Artikel und Links zu dem Thema.

Wir hätten da in Wikipedia also

  • Anhaltende Defizite in der sozialen Kommunikation und sozialen Interaktion über verschiedene Kontexte hinweg.
    • Ich schätze mal, den meisten Lesern entgeht dieser kleine aber wichtige Zusatz: über verschiedene Kontexte hinweg. Zudem kann man diesen Punkt nicht einfach mit Mangel an Empathie übersetzen. Und wenn wir die Symptome im Einzelnen betrachten, so wäre es doch eher untypisch, wenn einem das nicht auch schon mal widerfahren wäre.
      • Defizite der sozial-emotionalen Gegenseitigkeit (z. B. ungewöhnliche soziale Annäherung; fehlende normale wechselseitige Konversation, verminderter Austausch von Interessen, Gefühlen und Affekten)
        • Jetzt erinnere sich doch jeder bitte an die letzte Beziehungskrise? War da die soziale Annäherung normal? Oder hat man sich vielleicht zurückgezogen oder gar geschimpft, hat man sich in der Situation der Anspannung und des Stresses normal verhalten? War die Konversation wechselseitig und normal? Oder war es eher normal, dass Vorwürfe wechselseitig über den Tisch geflogen sind oder das grosse Schweigen herrschte? Hat man in Krisensituationen weiter den Austausch von Interessen, Gefühlen und Affekten gesucht oder musste man erstmal die Situation einordnen, hat diesen Austausch zurückgefahren, da jede Kommunikation mit Tretminen belastet war?
      • Defizite im nonverbalen Kommunikationsverhalten, das in sozialen Interaktionen eingesetzt wird (z. B. weniger oder kein Blickkontakt bzw. Körpersprache; Defizite im Verständnis und Gebrauch von Gestik bis hin zu vollständigem Fehlen von Mimik und nonverbaler Kommunikation)
        • Trete nun doch jener hervor, der in einer Beziehungskrise immer und jederzeit den Blickkontakt gehalten hat und auch seine Mimik adäquat eingesetzt hat. Und wer kennt nicht das Pokerface, die eingefrorene Mimik, in der man nichts mehr preis gibt? Insbesondere in schwierigen Situationen?
      • Defizite in der Aufnahme, Aufrechterhaltung und dem Verständnis von Beziehungen (z. B. Schwierigkeiten, eigenes Verhalten an verschiedene soziale Kontexte anzupassen, sich in Rollenspielen auszutauschen oder Freundschaften zu schließen)
        • Ich würde jetzt gern die Einschätzung aller Paare mit Kindern darüber hören, was mit ihrem Freundeskreis passiert ist. Ist es nicht so, dass dieser Freundeskreis sich ausdünnt, wenn man nicht mehr an den Orten zu den Zeiten ist, an denen man früher war? Hatten sie etwa Schwierigkeiten bei der Aufnahme, Aufrechterhaltung und dem Verständnis von Beziehungen?
        • Neue Freundschaften schliessen, auch ein interessantes Thema in einer Beziehung, besonders wenn vielleicht ein Partner unter Eifersucht leidet. Wie normal ist es dann noch, eine neue Freundschaft zu knüpfen? Können dann überhaupt noch Freundschaften auf Basis der eigenen Person geknüpft werden oder tritt man in dieser Angelegenheit fortan als Paar auf? Weil alles andere zu Spannungen führen würde, die man gern vermeiden möchte?
        • Eigenes Verhalten an verschiedene soziale Kontexte anpassen ist ja nun das Beliebigste überhaupt. Man nehme nur mal die Situation, ein Paar begibt sich an einen Ort und einem Partner gefällt die Location nicht. Ist dann jedes „Hier gefällt es mir nicht, lass uns woanders hingehen“ ein Symptom für Schwierigkeiten, sich verschiedenen sozialen Kontexten anzupassen?
    • Eingeschränkte, repetitive Verhaltensmuster, Interessen oder Aktivitäten, die sich in mindestens zwei der folgenden aktuell oder in der Vergangenheit erfüllten Merkmalen manifestieren.
      • Man beachte hier, dass mindestens zwei Merkmale erfüllt sein müssen. Wenn ich es richtig verstehe, dann auch noch zusätzlich zu den anderen Merkmalen. Ich denke mal, auch dies wird vielleicht gern übersehen.
        • Stereotype oder repetitive motorische Bewegungsabläufe; stereotyper oder repetitiver Gebrauch von Objekten oder Sprache (z. B. Echolalie, Aufreihen von Spielzeug, Hin- und Herbewegen von Objekten, idiosynkratrischer Sprachgebrauch)
          • Jeder, der sich jetzt das Bild z.B. von einer nikotinabhängigen Person vorstellen kann, die gerade in der Beziehungskrise steckt, wird dass Verhalten, wie Zigaretten dann geraucht werden, unter repetitive motorische Bewegungsabläufe einordnen können. Und gibt es da nicht diese chinesischen Kugeln, die man in der Hand bewegen soll, damit man sich entspannt oder beruhigt? Ist es nicht eher normal, wenn Adrenalin ausgeschüttet wird, man aber nicht in der Lage ist, gerade mal schnell einen 100m Spurt zum Abbau des Adrenalins zu machen, dass man dann in repetitive Bewegungsabläufe verfällt?
        • Festhalten an Gleichbleibendem, unflexibles Festhalten an Routinen oder an ritualisierten Mustern (z. B. extremes Unbehagen bei kleinen Veränderungen, Schwierigkeiten bei Übergängen, rigide Denkmuster oder Begrüßungsrituale, Bedürfnis, täglich den gleichen Weg zu gehen)
          • Jetzt mal ehrlich, wieviele Leute gehen nicht täglich denselben Weg? Ob es zur Arbeit ist oder die Einkaufsroutine am Wochenende? Wer kann da sagen, dass er ständig neue Wege ausprobiert?
          • Und wie sieht es hier mit Ritualen aus? Der tägliche Kaffee oder Tee am Morgen, der der ohne Frühstück nicht aus dem Haus kann und der, der sich wäscht, fertig macht und zur Tür raus ist, bevor man es bemerkt, wer hat keine solchen Rituale? Und sind unsere Grosseltern, bei denen man meistens sagt, nun, die sind halt so, dass wird sich nicht mehr ändern, die brauchen halt ihre Rituale, sind also unsere Grosseltern dann allesamt Autisten?
          • Unbehagen bei Veränderungen, na dann nehmen wir mal eine Veränderung. Da wird die Lieblingsjeans, die natürlich nicht mehr passt, aber aus sentimentalen Gründen noch behalten wird, heimlich entsorgt. Das soll kein Unbehagen wert sein? Nicht wegen der Veränderung, sondern wegen dem Übergriff auf die eigene Persönlichkeit. Ohne gefragt zu werden. Und auch, wenn jemand solange in WG’s gelebt hat wie ich, ist die Veränderung bezüglich der Auffindbarkeit von alltäglichen Gegenständen ein Thema. Natürlich geht man jedesmal vor dem Kochen erstmal alle Gegenstände und Dinge suchen, die man so braucht. Einschliesslich irgendwelcher Teller, die in irgendwelchen Zimmer ungespült vor sich hingammeln. Das dies auf die Dauer vielleicht irgendwann ein Unbehagen erzeugt, wer bitte kann das nicht nachempfinden?
        • Hochgradig begrenzte, fixierte Interessen, die in ihrer Intensität oder ihrem Inhalt abnorm sind (z. B. starke Bindung an oder Beschäftigen mit ungewöhnlichen Objekten, extrem umschriebene oder perseverierende Interessen)
          • Schwieriges Thema, denn um zu wissen, was abnorm ist, müsste die Norm geklärt sein. Aber das ist sie nur selten. Und treten nicht auch in normalen Beziehungskrisen, die länger dauern, solche Effekte auf? Der eine putzt wie blöd, der andere spielt ein Ballerspiel, der eine besäuft sich, der andere vergräbt sich in seine Briefmarkensammlung oder seine Lieblingsserie oder was auch immer? Man flüchtet in Arbeit, Drogen, Unterhaltung. Mit zweitweiser abnormer Intensität. Oder etwa nicht?
        • Hyper- oder Hyporeaktivität auf sensorische Reize oder ungewöhnliches Interesse an Umweltreizen (z. B. scheinbare Gleichgültigkeit gegenüber Schmerz oder Temperatur, ablehnende Reaktion auf spezifische Geräusche oder Oberflächen, exzessives Beriechen oder Berühren von Objekten)
          • Ich schätze mal, dass dieser Punkt eher selten in die Freizeit-Diagnose einbezogen wird und wenn zutreffend, möglicherweise, sofern noch mehr Kriterien hinzukommen, ein Anzeichen für Autismus sein könnte. Andererseits, man stelle sich einfach nur mal wieder dieses Geräusch vor, wenn die Kreide abbrach und der Lehrer mit Kreide und Fingernagel ein recht nervendes Geräusch erzeugte. Es gibt ja durchaus einige, denen das nie etwas ausgemacht hat. Sind die anderen jetzt alle Autisten?
      • Die Symptome müssen bereits in früher Kindheit vorliegen, können sich aber erst dann voll manifestieren, wenn die sozialen Anforderungen die begrenzten Möglichkeiten überschreiten. (In späteren Lebensphasen können sie auch durch erlernte Strategien überdeckt werden.)
        • Tja, das ist ein Killer, liebe Freizeit-Diagnostiker. Wobei ich wetten könnte, dass die meisten bei den Kategorien oben schon aufgehört haben zu lesen. Denn wie sicher seit ihr Freizeit-Diagnostiker euch über die Kindheit eures Partners? Wisst ihr diesbezüglich von Verhaltensauffälligkeiten? Wenn nicht, bewegt ihr euch auf extrem unsicheren Gelände!
      • Die Symptome müssen klinisch bedeutsames Leiden oder Beeinträchtigungen in sozialen, beruflichen oder anderen wichtigen Funktionsbereichen verursachen
        • Und wieder ein absoluter Killer. Klinisch bedeutsames Leiden, liebe Freizeit-Diagnostiker! Klinisch bedeutsame Beeinträchtigungen in sozialen, beruflichen oder anderen wichtigen Funktionsbereichen! Solche Symptome sind jedoch nicht leicht zu erkennen, fallen also durchaus erst spät auf, wie mich ein Betroffener informierte. Ich würde also annehmen, dass auch eine Eigendiagnose des Betroffenen vorliegen sollte, bevor man sich zu einer solchen Diagnose über andere versteigt.
      • Die Symptome können nicht besser durch eine Intellektuelle Beeinträchtigung oder eine Allgemeine Entwicklungsverzögerung erklärt werden. Intellektuelle Beeinträchtigungen und Autismus-Spektrum-Störungen treten häufig zusammen auf. Um die Diagnosen Autismus-Spektrum-Störung und Intellektuelle Beeinträchtigung gemeinsam stellen zu können, sollte die soziale Kommunikationsfähigkeit unter dem aufgrund der allgemeinen Entwicklung erwarteten Niveau liegen
        • Auch hier wieder ein Killer für alle Freizeit-Diagnostiker. Wenn die soziale Kommunikationsfähigkeit unter dem aufgrund der allgemeinen Entwicklung erwarteten Niveau liegen sollte, wie konnte dann überhaupt eine Beziehung entstehen? Kommuniziert ihr auch unter Niveau, möchte man da fast spotten, wenn es nicht so tragisch wäre. Ergänzend, mit Unterstützung eines freundlichen Twitter-Users, der unter Autismus leidet, möchte ich für dieses Kriterium noch anmerken, dass wir es hier nicht mit Autismus allein zu tun haben, das „und“ ist hierbei wesentlich und leicht zu übersehen.

Also nochmal, liebe Leser, lasst die Finger davon irgendeinem Ex-Partner irgendeine Krankheit anzudichten oder diese diagnostizieren zu wollen!

Es ist schon hart genug für jene, die tatsächlich davon betroffen sind. Selbst Experten sind sich da oft nicht einer Meinung. Und wenn es nicht stimmt, dann fällt das sogar in strafrelevante Bereiche wie Verleumdung und üble Nachrede.

Falls ihr den Verdacht haben solltet, erkundet vielleicht zuerst bei euch, wie es um Empathie und anderes steht. Denn wie heisst es so schön: Der Dieb erkennt immer seinesgleichen. Will heissen, was man an anderen erkennt, muss man auch kennen, sonst könnte man es nicht erkennen. Wie ja auch oft Vorwürfe mehr mit einem selbst zu tun haben, als mit der Person, an die sie gerichtet sind.

Hier noch ein Link, bereitgestellt von einem Betroffenen, zum Thema Empathiemangel.

Liebe, Sex & Beziehungen im Alter – eine längst fällige Abrechnung

Diejenigen, die ihren Partner fürs Leben gefunden haben, brauchen nicht weiterlesen. Gönnt die Zeit lieber eurem Partner.

Fangen wir mit Sex an. Nach dem biologischen Erfolg, der auch Kinder genannt wird, erfüllt Sex nur noch eine Funktion. Er dient der Entspannung, wie die Bonobos durchaus richtig erkannt haben. Warum sich die Menschen damit schwer tun, liegt wahrscheinlich an Religionen, zementierten Weltbildern und dem menschlichen Drang etwas zu besitzen und somit kontrollieren zu können. Mit Liebe hat das herzlich wenig zu tun. Liebe ist bedingungslos.

Aber findig, wie wir Menschen nun mal sind, gibt es mittlerweile einen riesigen Markt an Sex-Dating-Agenturen, die den Menschen das Geld aus der Tasche ziehen, indem sie so tun, als würden sie bei der Befriedigung von Bedürfnissen behilflich sein. Dabei kann man sich für das gleiche Geld einen anständigen Sexarbeiter leisten. Da weiss man was man hat und was man bekommt. Transaktion abgeschlossen, Verbindlichkeiten getilgt.

Und im Gegensatz zu den freischaffenden privaten Sexanbetern, die keiner gesundheitlichen Kontrolle unterliegen, ist das Risiko bei einem professionellen Sexarbeiter doch etwas geringer, sich eine Geschlechtskrankheit zuzuziehen. Bei einer langfristigen Beziehung senkt sich das Risiko, abhängig von der Promiskuität, nochmals um einiges.

Für jene, die sich eine längerfristige Beziehung wünschen, also die Kosten und Risiken für Sexarbeit drücken oder verschleiern wollen, wie ich es jetzt mal provokativ formuliere, gibt es dann jede Menge Partnerschaftsbörsen. Ein Blick hierauf erschliesst weitere Abgründe.

Nicht nur die gepflegten Träume vom Prinzen oder der Prinzessin, nein, das kann man ja haben, man sollte sich vielleicht nur nicht zu sehr darauf versteifen. Kann gut sein, dass Prinz oder Prinzessin erst kommen, wenn man in der Grube liegt und keine Fähigkeit haben, einen ins Leben zurückzuholen. Das alles ist nur ein kleiner Abgrund, der eine gewisse Verzweiflung und Enttäuschung, gepaart mit unrealistischer Hoffnung offenbart. Einen Rückfall in die Pubertät, sozusagen.

Ich meine da eher die Marktmechanismen, die hier greifen. Und die dazu führen, dass alle sich toll und positiv darstellen wollen. Also so, wie sie eigentlich nicht sind. Was ja jetzt dem Zweck, einen passenden Partner zu finden, diametral entgegengesetzt ist. Wenn die Partnerschaft schon mit einer Lüge beginnt, wie soll das funktionieren?

Ich meine da jene, die meinen, ich stell mal ein Bild von mir rein, als ich noch zehn oder zwanzig Jahre jünger war. Oder die mit Photoshop drüber gehen, einen Weichzeichner wegen der Falten drüberlegen, mit Entfernung arbeiten, gleich auf ein Bild verzichten oder was es da nicht so alles gibt.

Und das Marketing geht ja weiter. Kommt man erstmal in Mailkontakt, dann muss man seine Haut aber richtig zu Markte tragen. Spritzig, humorvoll und freigiebig soll man sein. Eine Investition ist gefragt, bei der aber keine Ware, sondern nur eine Möglichkeit, einen Hoffnungsschimmer am Horizont angeboten wird. Doch wer will schon ernsthaft Details seines Lebens dem Netz überlassen, in dem es immer wieder Ausbrüche von Datenreichtum (Neusprech für veröffentlichte private Daten) gibt?

Dann noch diese Anspruchshaltung. Haupttenor: Ich will dieses. Ich will jenes. Ist ja schön und gut, aber kommt nicht erst das Geben vor dem Nehmen? Also die Aussage, gut kochen zu können, ist jetzt aus meiner Sicht keine angemessene Entschädigung. Gut kochen kann ich selbst.

Woher kommt das alles? Ich meine, für den biologischen Erfolg namens Kinder und Enkel, klar, da lohnt es sich zu investieren. Zumindest redet uns das Mutter Natur ein. Es liegt uns sozusagen in den Genen. Aber sonst? Was ist diesen Aufwand wert? Wenn ich mir da einige ältere Frauen anschaue, die doch meist konsequenter als Männer sind, dann sagen sie bewusst, warum soll ich mich mit einem Partner und unnötigen Kompromissen rumschlagen? Ich habe alles, was ich brauche. Kinder, Enkel, Freunde. Wozu also noch ein Problem ins Heim holen?

Wegen dem Sex? Wie ich schon sagte, da ist eine professionelle Lösung billiger und unproblematischer, wenn man nicht in der Lage ist, selbst Hand anzulegen und den Triebstau abzubauen.

Angst vor dem allein sein? Man ist nur so allein, wie man sich fühlt. Man kann sich auch in einer Masse von tausenden Menschen allein fühlen. So what?

Hilfe, wenn man gebrechlich wird? Nun, man wird selbst gebrechlich, da ist das mit der Hilfe auch eingeschränkt. Besonders im Alter.

Finanzielle Sicherheit? In einer Zeit wie der unseren? In der die Gesellschaft durch die Digitalisierung im Umbruch ist? In dem kein Job und keine Rente mehr sicher ist? Illusionen sind etwas für kleine Kinder oder man geniesst sie im Rahmen einer Veranstaltung. Für das konkrete Leben sind sie wenig hilfreich.

Immer noch, schon allein wegen der Lohnstrukturen, betrifft dieses Thema Männer stärker. Auch das gedisst werden, zuhause, wenn man Opfer dieser Entwicklung wurde. Man wird als Eindringling in das Reich der Frau wahrgenommen. Man sollte ja in der Arbeit sein und nicht zuhause. Unabhängig davon, ob man sich an der Hausarbeit beteiligt, sie komplett erledigt oder den Pascha spielt. Unabhängig davon ob man immer noch die finanzielle Basis bereitstellt. Schon die Anwesenheit ist ein Affront. Keine schöne Sache. Vor allem nicht das, was man als Mann von einer Beziehung erwarten würde. Oft hat man schon durch die Arbeit genug Mühe, den Kontakt zu den Kindern und zur Familie ausreichend wahrzunehmen. Kann man es endlich, ist es auch nicht recht.

Und Liebe? Erstmal muss sie da sein. Das ist nur bei Kindern so. Die liebt man einfach von Anfang an. Bedingungslos. Zumindest in den meisten Fällen. Bei Partnern muss Liebe sich erst entwickeln. Klar hat man eine Verliebtheitsphase, in der man völlig gaga ist. Aber das gibt sich nach einem halben, spätestens einem Jahr. Der Zeitraum den Mutter Natur für die Geburt eines Kindes braucht. Schon schlau eingerichtet.

Erst danach fängt man an, an der Liebe zu arbeiten. Und dann? Stellt man vielleicht irgendwann fest, dass man den Partner zwar liebt, aber nicht mehr mit ihm kann. Man bleibt ja nicht stehen. Man entwickelt sich weiter. Manchmal in unterschiedliche Richtungen, die zu unterschiedlichen Lebenswegen führen. Die Kinder sind auch aus dem Haus, warum also noch Kompromisse eingehen?

Liebe ist bedingungslos. Bedeutet daher auch, jemanden gehen zu lassen oder zu gehen, wenn es das Beste für beide ist. Ohne Groll. Aber das ist es ja nicht, was die meisten unter Liebe verstehen. Denn dummerweise verwechseln immer noch viele die Liebe mit Besitz und Kontrolle.

Die Frage ist also, was treibt uns an, krampfhaft nach einer dauerhaften Beziehung zu suchen, obwohl das Alter und die Erfahrung uns sagen, dass nichts von Dauer ist?

Könnte es sein, das es damit zu tun hat, dass die Sozialstrukturen unserer Gesellschaft auf Paare ausgerichtet sind, nicht auf Familien oder gar Grossfamilien?

Könnte es sein, das unsere Gesellschaftsstruktur nicht mehr dafür geeignet ist, einem Mitglied der Gemeinschaft Halt zu geben, das keinen Partner hat?

Könnte es sein, das eine Zweier-Beziehung einfach die Norm ist und deshalb, gemäss dem Herdentrieb, die Mehrheit dies als erstrebenswert hält? Auch wenn es keinen Sinn oder Nutzen mehr erfüllt?

Oder werden wir einfach zu alt und kommen nicht damit klar, dass die Märchen, die wir kennen, für Leute geschrieben wurden, die mit etwas Glück dreissig oder vielleicht vierzig wurden?

Wozu also noch eine Beziehung eingehen? Was sind das für tolle Vorteile, die ich da haben soll? Bis jetzt habe ich immer draufgezahlt. Finanziell und emotional. Klar, den finanziellen Teil hätte ich verhindern können, in dem ich mich wie ein Geizhals benommen hätte. Leider ist das nicht mein Stil. Und der emotionale Teil betrifft jeden. Doch ich rede nicht von der Schuldfrage. Schuld sind immer beide oder keiner.

Gefühlsmässig tendiere ich ja zu einer Zweier-Beziehung. Nur die Fakten über die Lebensspanne sprechen immer mehr dagegen. Mir gehen sozusagen langsam die Rechtfertigungsgründe aus. Und die Zeit wird auch knapp, denn mit dem Alter kommt die Einsicht in die eigene Sterblichkeit. Warum sollte ich also nicht, ganz egoistisch, im Stil der Zeit, den Rest meines Lebens unbeschwert geniessen? Und trotzdem alles haben, was ich benötige, nur nicht unter dem Dach „Zweier-Beziehung“, die in dieser Gesellschaft die übliche Lebensform darstellt?

Vielleicht habt ihr ja Gründe, die ich noch nicht kenne. Schreibt sie in die Kommentare und lasst uns drüber reden.